Beitragsautor:
Wolfgang Chr. Goede, Wissenschaftsjournalist
DKF München, derzeit in Medellín
Für den Blog im März 2023
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vertreten ihre persönlichen Ansichten.
In den 90ern hatte ich für P.M.-History über die Kolonisierung der Amerikas geschrieben. Lange rätselte ich, warum Nord- und Süd so unterschiedliche Kulturen hervorgebracht hatten. Des Pudels Kern war am Ende, dass sich der Geist der Europäischen Aufklärung, der demokratische Spirit Frankreichs und Englands, der Freiheitswille der Pilgerväter, kurzum Freigeist und Individualismus in den USA und Kanada niederließen. Während der mittelalterlich-monarchische Absolutismus Spaniens und sein patriarchalischer Katholizismus den hispanischen Teil der Neuen Welt prägten mit den bis heute herrschenden Feudalstrukturen. Ausdruck finden sie in markanter sozialer Ungleichheit, die sich u.a. im Landbesitz niederschlägt.
Rechts-Links-Ausschläge
Die Schere von wenigen Großgrundbesitzern und einer Masse besitzloser Kleinbauern ist fast nirgendwo größer als in Kolumbien, stellte Professor Stefan Peters in einem DKF-Vortrag 2021 heraus. Der Friedensforscher der Universität Gießen ist der Direktor des Deutsch-Kolumbianischen Friedensinstituts CAPAZ, das seinerzeit von Außenminister Steinmeier, heute Bundespräsident, geschaffen wurde, um den Post-Konflikt nach dem Friedensschluss mit der FARC zu begleiten. Seine kolonial-feudale Historie ist in Kolumbien und vielen Nachbarbarländern dafür mit verantwortlich, dass Regierungen sich kaum in der demokratischen Mitte etablieren, sondern mit oft krassen Ausschlägen nach links und rechts sich in die Geschichte einschreiben. Kolumbianischer Staatschef ist derzeit der ehemalige M-19 Guerillero Gustavo Petro.
Meine Nord-Süd-Analyse haben seither neue Facetten bereichert. So hat der US-amerikanische Anthropologe David Graeber 2022 in Anfänge (The Dawn of Everything) eine ergänzende Sicht vorgelegt, dass nämlich die indigenen Gesellschaften des Kontinents viel demokratischer aufgestellt waren, als von vielen Kolonisten, Mönchen und Historikern überliefert; und dass wichtige Funken für die Aufklärung und Französische Revolution, insgesamt Einzug von mehr Freiheit und Selbstbestimmung in die europäischen Gesellschaften, von den Ureinwohnern der Amerikas ausgingen.
Indigene Innovationen
Graeber spricht von einem „Systemschock“, der erst wie ein Beben durch die Siedler ging und dann mit den Geschichten über die Freiheit und Unabhängigkeit der Indigenen sich in Europa fortpflanzte und die bekannten Umwälzungen auslöste. Wer sich mal gefragt hat, warum auf Bildern von der Boston Tea Party, Start in die nordamerikanische Revolution, indianischer Kopfschmuck zu sehen ist, warum das US-Präsidentensiegel Pfeile enthält, der Schlachtruf der Französischen Revolution „Liberté, Egalité, Fraternité“ mit Pfeilen sich schreiben lässt, findet im Graeber-Werk die Erklärung.
Unlängst stieß ich in „Medellíns Hugendubel“ Panamericana auf ein weiteres beeindruckendes Druckwerk, Horizontes (auf Deutsch Horizonte). Hierin beschreibt der englische Wissenschaftshistoriker James Poskett in einer packenden Zeitreise die globalen Ursprünge unseres heutigen modernen Wissens und Zivilisation. Die hochentwickelte Astronomie der Maya mit supergenauen Kalendern, das perfekte Kanalisationssystem der Azteken, wie die Kartoffeln der Inka viele Regionen Europas vorm Verhungern retteten, und: Wer sich gerne der Exotik Botanischer Gärten hingibt, findet in Mittelamerika ihre Wiege. Dort wurden sie von den einheimischen Völkern zum Sammeln und Anbau von Heilpflanzen als sozusagen Naturapotheke erfunden und kultiviert und im Fahrwasser der Konquistadoren nach Europa verfrachtet.
Globaler Wissens-Highway
Afrikaner, Araber, Inder, Chinesen, Japaner: Mit ihren phänomenalen Wissensschätzen trugen sie alle zum Entstehen unserer heutigen Kultur bei. Handelsstraße und Ost-West-Wissens-Pipeline war die Seidenstraße, die vom Pazifik, über Bagdad und Kairo, bis in die Subsahara und Timbuktu führte.
Mit den römischen Zahlen sümpfelte Europa heute noch im dunklen Mittelalter. Erst die aus Indien via Moslems über die iberische Halbinsel eingesickerte Numerik war der Startschuss zur modernen europäischen Wissenschaft. Salonfähig wurde sie aber oftmals erst durch die Rezeption in den asiatischen und muslimischen Hochkulturen, wie im Falle von Einsteins Relativitätstheorie (von den Nazis als jüdische Weltverschwörung geschmäht) oder Darwins Evolutionstheorie (von englischer Krone und Adel strikt abgelehnt – der Mensch und die höfische Gesellschaft Abkömmlinge von Affen: eine Majestätsbeleidigung).
Barbaren—wer?
Zu diesem neuen, nicht-eurozentrischen Geschichtsbild trägt auch Misereor bei, die Entwicklungs(hilfe)-Einrichtung der katholischen Kirche. Die Klammer lässt fragen, was Entwicklung eigentlich ist und, sofern beantwortbar, wer wen entwickelt. Seinen 2021-Werkbrief betitelte die religiöse Einrichtung mit Gut(es) Leben, abgeleitet von „Buen Vivir“, der Lebensphilosophie der Indigenen Südamerikas, „sumak kawsay“ in Quechua. Das Gemeinwohl war für diese Gemeinschaften das erstrebenswerte Lebensziel. Geld und Eigentum existierten nicht. Die Arbeit erfolgte im Kollektiv, bis heute in Gestalt von „Acción Comunal“ beim gemeinsamen Straßenbau der Campesinos. Dieser Arbeits- und Denkweise liegt ein zirkuläres Naturverständnis zugrunde, ein Kreislauf, in dem alles eine Seele hat, bis zum Stein.
Nicht nur das stieß den Europäern als Hexenglaube auf. Praktiken wie Menschenopfer (als Tribut an die Sonne bei Inka und Maya) und Kannibalismus (um sich den Kampfesmut ihrer getöteten Feinde einzuverleiben, wurden diese bei den Irokesen zum Essen gereicht) machten die Ureinwohner in den Augen ihrer Invasoren zu Unmenschen und Barbaren, die zum Christenglauben bekehrt und in Europas Kultur eingemeindet werden mussten. Zu den eigentlichen Barbaren wurden dabei oft die Bekehrer. Im Prozess der Kolonisierung und Missionierung verloren schätzungsweise 90 Prozent der Einheimischen ihr Leben. Was den kanadischen Anthropologen und intimen Kolumbienkenner Wade Davis in (seiner „Liebeserklärung“ ans Land) Magdalena. Fluss der Träume von einem „Holocaust“ sprechen lässt.
Kreisläufe
Das zeigt: Lateinamerikanische und kolumbianische Geschichtskunde ist im Umbruch. Auch historische Wahrheit, um Hannah Arendt zu zitieren, gibt es immer nur zu zweit. Zumindest der argentinische Papst Franziskus hat sich für das den Indigenen angetane Leid entschuldigt. Das lineare „Weiter-Höher-Schneller“ in Global-Nord hat durch die beunruhigenden Anzeichen einer Klimakatastrophe Dämpfer und Dellen hingenommen. Nicht nur „Kreislauf“-Wirtschaft ist eines der neuen Öko-Bonmots.
Auch physikalisch nähern wir uns dem elementaren Naturverständnis von Global-Süd an. Dass wir aus Sternenstaub sind und wieder dazu werden, weiß nicht nur der Schlager: Alles Leben geht aus atomaren Recyclingprozessen hervor. Alte ausgebrannte Sterne (wie auch unser Mutterstern in fünf Milliarden Jahren) werden zu neuen Sonnen, Planeten und Materialien darauf verbacken. Insofern sind die Schöpfungsmythen in der christlichen und in anderen Religionen sowie die Hoffnung auf ein Himmels-Paradies und Wiederauferstehung wissenschaftlich durchaus geerdet.
Organischer Kosmos
Die moderne Physik holt uns indes auch geistig-spirituell ab und erinnert dabei an sumak kawsay. Die Quantenmechanik legt nahe, dass alle Teilchen im Universum miteinander verbunden sind, überlichtschnell, was selbst Einstein „spukhaft“ fand. Unsere Altvorderen in Amerika waren den Geheimnissen des Seins möglicherweise näher als wir Modernen.