Corona-Update
San Jerónimo, Colombia
Wochenende 29./30. August 2020
Wolfgang Chr. Goede, Text & Foto
Unser Dschungel-Camp 2.0 –
oder von der hohen Kunst des Improvisierens
Ein Bericht über unseren Tagesablauf während der Quarantäne im ländlichen Kolumbien. Wer nicht improvisiert, geht unter: Eine harte Lektion für uns Deutsche. Der Bericht stammt vom 20. August. Am letzten Augustfreitag fuhr ich erneut ins Pueblo hinunter, um für die DKF-Fassung des Berichts Fotos zu schießen. Unten streikte meine Kamera – typisch, Murphys Law, die unbequeme Anreise für nix? Aber ich habe gelernt, mich mit den Umständen zu arrangieren. Ich benutzte meine Handy-Kamera, die allerdings nur für Selfies funktioniert, mehr schlecht als recht, und die ich noch nie eingesetzt hatte. Ich wurschtelte mich durch und finden Sie nicht auch: dass die improvisierte Fotoqualität zum Inhalt passt? Noch etwas anderes hat mich beeindruckt. Acht Tage nach meinem letzten Besuch fand ich jetzt ein ganz anderes Dorf vor. Nächste Woche, am 1. September will Kolumbien sich wieder öffnen. Es herrschte bienenemsiges Treiben – Euphorie lag in der Luft. Endlich! Nach über fünf Monaten strengem Lockdown wieder ein bisschen Freiheit – mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Was soll’s! So fühlt man sich, wenn man einem Gefängnis den Rücken kehren darf.
Ich habe schlecht geträumt. Dass ich mit einem Skorpion, fest umschlungen, geschlafen hätte. Luz hatte am Abend in der Finca-Wohnung eines dieser Giftstacheltierchen gesichtet. Glücklicherweise ein ungefährliches schwarzes. Zusätzlich zur Kröte. An die haben wir uns gewöhnt. Auch dass sie im Wohnzimmer immer so einen penetrant stechenden Geruch hinterlässt.
Eigentlich will ich um sechs Uhr früh auf den Beinen sein. Heute ist Einkaufstag. Mein kolumbianischer Ausweis endet mit einer geraden Zahl. Damit habe ich überallhin Zutritt.Juchhe!
Nur … es regnet, eine äquatoriale Sintflut. 20 nasse Minuten bis zum Haltepunkt des Pickups gehen? Der um sieben über den schlagloch-übersäten Feldweg ins Dorf hinunterrumpelt.
Ich wickele mich fest in meine drei Decken und schließe wieder die Augen. Es ist kalt und feucht.
Corona hat unser Leben komplett auf den Kopf gestellt. Eigentlich hätten wir zwei Fahrzeuge, einen Nissan Jeep Baujahr 1984 und einen TucTuc. Bei beiden ist der TÜV abgelaufen. Er lässt sich nicht erneuern, weil die Gemeinden sich gegeneinander abschotten.
Da hilft kein Jammern, auch kein Beten: Wir müssen uns durch alle Widrigkeiten improvisieren hier im Outback! Darin sind die Hiesigen Meister, Deutsche Lehrlinge.
Dann reißt auch noch das Internet ab. Opfer der Regenfälle. Luz unterrichtet gerade Englisch aus dem Finca Home Office und steht buchstäblich im Regen. Das mehrfach in der letzten Zeit. Überlebenswichtig: Ohne Internet kann sie ihren Job an den Nagel hängen.
Dafür hat der Regen draußen aufgehört. Für zehn Uhr bestelle ich ein Motorradtaxi und fahre als Sozius ins Dorf hinunter. Grandioser Ausblick! Die majestätischen Kordilleren schmiegen sich in Wolkenzuckerwatte. Dazwischen Wolkengeschwader, von weiß bis schwarz, in allen Nuancen dazwischen. Dramaturgie pur, die sich über den Himmel wälzt.
Großes Anden-Kino! Dass Mateo über Stock und Stein einhändig fährt, mit der anderen Hand telefoniert, keinen Helm für mich hat, stört mich nur, wenn ich ums Gleichgewicht ringe.
Erste Station in San Jerónimo: Einkauf von Baumaterialien für die Finca. Damit unsere Arbeiter weiterkommen mit Reparaturen und Umbauten des einstigen Hostels – Zukunft ungewiss. Regelmäßig bringen sie uns Bananen und Avocados aus ihren Gärten. Pünktlich um sieben Uhr früh legen sie los, singend und scherzend, handwerklich perfekt, enorm flott. Beim Materialnachschub kommen wir kaum hinterher. So fix schießen die Preußen hier – Campesinos Rapidones Antioqueños.
Das Bestellen geht ruckzuck. Aufwendiger war das „Bio-Sicherheits-Protokoll“ beim Betreten des Baugeschäfts: Aufschreiben der Ausweis- und Telefonnummer, Desinfektion, Fiebermessung. Komisch, immer unter 35 Grad. Obwohl Typus Schwitzer, eher nervös, bin ich temperaturtechnisch offensichtlich Kaltblüter und unterstresst.
Kommunikation bleibt ein Kopfschmerz in Corona-Zeiten. Die Campesinos in ihrem typischen Singsang klingen durch die Masken noch nuscheliger. Ich muss oft nachfragen. Sie auch bei mir mit meinem ungewohnten Akzent. Telefonieren im oberdrein verrauschenden WhatsApp Modus ist wie „Stille Post“.
Vorm Geschäft wartet im TucTuc bereits Uriel, Mateos Papa. Wir verladen Farbeimer, Bürsten, Nägel, Stangen, Säcke. Ein Fanfarensignal, Anruf. „Hijo de pucha“, entfährt es Uriel. Er muss von jetzt auf sofort einen weiteren Auftrag annehmen, will aber gleich zurücksein.
Gleich heißt hier eine Stunde, ein Tag … Wir laden alles wieder aus. Der Firnisbehälter ist schlecht verschlossen. Igitt, meine Finger verfärben sich dunkel und kleben.
Nach nur 15 Minuten kommt Uriel zurück. Hinter ihren Masken erkennt man die Menschen kaum. Meinen Chauffeur nur durch den aufgedruckten Kieferknochen mit Riesenzähnen auf dem „Maulkorb“. So nennen sie hier ihren Mundschutz.
Nächster Halt ist D1, der hiesige Aldi. „Ruf mich an, wenn du fertig bist“, sagt Uriel beim Absetzen und weg ist er. Kruzifünferl, mein Handy funktioniert doch nicht!
Ich bin der vierte in der Warteschlange. Nach 20 Minuten werden selbst die geduldigen Kolumbianer unruhig. Warum stehen wir uns weiterhin die Beine in den Leib? Wenn drinnen kaum mehr ein Kunde ist?
Die Sonne hat die Wolken weggebrannt. Ihre Strahlen schießen wie glühende Pfeile fast senkrecht von oben, bei sieben Grad nördlicher Breite und 800 Höhenmetern. Scheiß- äh Schweißtropen.
Endlich: Einlass. Meine Temperatur ist nur um 0,1 Grad gestiegen. Die Regale biegen sich, Kunden schwatzen entspannt. Beim Auschecken meckert die Kassenelektronik. Meine Spardagirokarte, auch die Visa-Schwester sind ihr nicht genehm. Sei auf der Hut, habe immer eine dritte parat! Die einheimische funktioniert.
Uff! Die Kassiererin und ich lächeln. Sie blickt mir aus fast pechschwarzen Pupillen tief in die Augen. „Wo bist du her?“ „Deutschland.“ „Mich entzückt dein Akzent“, ertönt‘s aus dem visierartigen Vollgesichtsschutz. Ich danke. So viel Charme erlebe ich im Münchner Aldi nie. Dort sind meine blauen Augen auch nicht so sehenswert.
Wie ein Packesel trete ich auf die Straße. Rucksack und über die Schultern gehängte Tragetaschen, alles proppevoll. So prollig geht man hier nicht durch die Öffentlichkeit. Sondern winkt sich ein Taxi-TucTuc und lässt sich herumkutschieren. Spätkoloniale Gutsherrenmentalität! Ich schwitze den Berg hoch, habe noch eine Liste dringender Erledigungen.
Mein Handy kriegt endlich ein Checkup. Ich staune, mal wieder. Die Dame vom Tele- Shop bedient gleichzeitig fünf andere, hat aber umgehend spitz: Wenn ich die kolumbianische Ländervorwahl entferne, klappen meine Anrufe. Verdammt, warum komme ich nicht selbst darauf?
Mir fehlt Improvisations- und Experimentiertalent für unser Dschungel-Camp-Leben. Wie so oft in den letzten Wochen trauere ich meinem geregelten Leben in München nach. Mittags Kiesertraining, danach in die Stabi, Weltpresse von vorne bis hinten, im Café eine saftige Mohnschnitte mit schaumigem Cappuccino, bis 23.45 Uhr auf der Bibliotheksempore, stets Platz 304 arbeiten, im Bierstübchen im Oly-Dorf noch ein Weizen zischen, sonntags rudern. Sehr – zu bequem?
Früher sind wir durch die Weltgeschichte getrampt, mit einem Seesack, darin Zelt und Schlafsack. Haben geschlafen, wo immer wir abends landeten, in Holland mitten im Autobahnkreuz, im Royal Park von Edinburgh. Ohne viel Überlegen jahrelang in die Amerikas ausgewandert. Heißa, was kost‘ die Welt! Typen wie mich heute nannten wir damals geringschätzig „bürgerlich“.
Mittlerweile stehe ich vor den beiden einzigen ATMs im Dorf. Einer kaputt, vorm anderen eine Schlange. Warten, schon wieder. Schließlich: 4 Abhebungen á 600.000 Pesos, in Scheinen á 50.000, 20.000, 10.000. Das ist viel Kohle hier. Immerhin: Sehr spendabel die Bank heute. Sonst rückt sie nur 600.000 raus, manchmal auch nix.
Nur: Wohin mit dem Papierberg? Ich stopfe ihn in die weiten Hosentaschen. Die zehnköpfige Schlange schaut neugierig zu – wer sonst noch? Samstagmittags (hier gibt’s noch die fünfeinhalb-Tage-Woche) zahlen wir unsere Arbeiter bar aus. Keiner hat ein Bankkonto. Soo umständlich … h-i-l-f-e.
Ein Anruf – funktioniert, welch Euphorie! Minuten später tuckelt mein treuer Uriel um die Ecke. Er und seine Familie kämpfen ums Überleben mit ihrem kleinen Fuhrpark.
Seit März Quarantäne. Kein Mensch fährt größere Distanzen.
Hey, wie gut geht’s uns Deutsche! An denen der Corona-Kelch vorbeiging – bisher. Ich mit verlässlichen Kontoeingängen am Monatsersten. Worüber reg ich mich auf?
Von meinen Euros profitiert auch unser Gärtner Isaias. Wir haben ihn von Halb- auf Vollzeit befördert, zum Generalmanager. 250 Euro monatlich, über die Hälfte eines Lehrergehalts. Mit Arbeitsvertrag inkl. Kranken- und Altersversicherung.
Fast königlich in einer Arbeitswelt mit 50 Prozent informell-prekär Beschäftigten, jetzt auch noch corona-rezessiv. Isaias‘ halbe Großfamilie ist mittlerweile auf unserer Baustelle beschäftigt.
Wir holpern im Dreirad-TucTuc den Feldweg hoch. Uriel telefoniert ständig. Der Regen spült die Schlaglöcher immer tiefer aus. Eigentlich wären wir im Sommer. Der ist hier ausgefallen. Globaler Klimawandel!
Mein armer vom vielen Sitzen, Lesen, Computern bandscheiben-lädierter Rücken! Schläge muss ich ausgleichen, nicht steif wie eine deutsche Eiche, sondern wie ein hiesiger Bambus, auf dem Sitz Salsa tanzen, aber auch nicht so mein Fall.
Noch gehen wir schwanger: Was machen wir mit unserem ehemaligen Hostel, mittlerweile in „La Tal Finca“ umbenannt? Bei allen Widrigkeiten: 1500 Gäste in den letzten acht Jahren und mehrere tausend Follower mögen unser Anwesen.
Sein Erwerb entstand aus einer Schnapsidee bei einer Hawaii-Reise: Bieten Kolumbiens Schönheiten nicht viel mehr als die Vulkaneilande? Unsere Besucher gaben uns recht, nahmen verstopfte Klos, Insektenstiche in Kauf. Gerade huscht eine fette Spinne über meinen Monitor.
Für den Post-Lockdown denken wir an ein Zentrum für internationale Sprachferien, Kulturaustausch, Psychohygiene. Aber, ganz im Ernst, sollten wir nicht ein Dschungel-
Camp ausschreiben? Nicht für TV-Promis, sondern Normalos?
Selbst unsere pingelige Tochter hat hier zehn Monate gelebt, überlebt, stressigen Hostelbetrieb zeitweise solo gestemmt, fürs Leben gelernt. Ihr heutiger Mann hat gelernt, dass ein kaputter Fahrradschlauch zehn Leben hat. Zum perfekten Abdichten lecker Leitungen taugt wie für fast schweißfeste Verbindungen.
Um die Ecke denken mit ein bisschen Humor richtet’s: die wichtigste Finca-Lektion.
PS: Wieder hatte ich so‘n komischen Traum. Dass meine Redaktion auf eine Waldlichtung verzogen war. Wir draußen unter Wellblechdächern arbeiteten, bei jedem Wind und Wetter. Im Postkörbchen fand ich statt meiner täglichen Zeitungslektüre eine Pudelmütze. Absurd? So starteten 1945 „Süddeutsche“ und „Spiegel“. Um Überleben zu lernen musste man nicht nach Kolumbien reisen.
Dieser Bericht erschien am 24. August 2020 in angstfrei.news unter 360° [→ angstfrei.news](https://www.angstselbsthilfe.de/angstfrei-news/montag-24-august-2020-8- uhr/)
[→ La Tal Finca](http://hostallafinca.com/en/28-2) Fotolegenden © Goede (von oben nach unten)
1 San Jerónimo, im Tal zwischen Medellín und Sta Fe de Antioquia, 15.000 Einw. (2018), starker Zuzug aus Medellín, 800 Höhenmeter, tropisches Klima um 30 Grad Celsius, an den Bergen rundherum gemäßigte 20 bis 25 Grad.
2 Auf der Plaza im Zentrum erwacht wieder das Leben – „genug Quarantäne“: Im September wollen Antioquia und viele andere Regionen Kolumbiens wieder öffnen.
3 Lange Warteschlangen für den Empfang der Corona-Wohlfahrts-Unterstützung. 4 Für die Wiedereröffnung nächste Woche wird alles blitzblank geschrubbt.
5 Keine langen Warteschlangen mehr vor D1, dem hiesigen Aldi.
6 Kein Dorf ohne Kirche – seit Jahren steht ihr Zeiger auf fünf Uhr.
7 Sotrauraba-Busse nach Medellín fahren bereits wieder – Ende von über fünf Monaten Zwangsurlaub: Der Fahrdienstleiter freut sich.
8 Wandgemälde: Die koloniale „Puente del Occidente“ über den Cauca-Fluss ist Lokalattraktion.