Dr. Frank Semper für DKF-Blog 05/06/2020
Anmerkung zum CAPAZ-Experten-Panel vom 19.05.2020
Zunächst möchte ich mich bedanken bei Wolfgang Goede für die gelungene und gut nachvollziehbare Zusammenstellung der Positionen der teilnehmenden Experten der CAPAZ-Online-Diskussion vom 19.05.2020 und den darauf bezogenen, sehr hilfreichen Kommentar von Bernd Tödte, der einige zentrale Aspekte in den Fokus rückt, die es verdienen, vertieft zu werden. Die von den Diskutanten aufgezeigten Defizite des bisherigen Friedensprozesses sind soweit bekannt und weitgehend unbestritten.
Mir geht es in diesem Beitrag darum, den herausragenden Stellenwert der durch den Friedensvertrag (Acuerdo Final) vom 24.11.2016) geschaffenen Übergangsjustiz aufzuzeigen.
Das integrale System der Wahrheit, Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung, das mit dem Abkommen über die Beendigung des Konfliktes und der Schaffung eines stabilen und nachhaltigen Friedens zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC-EP geschlossen und durch den Gesetzgebungsakt 001 von 2017 in die Verfassung aufgenommen wurde, gehört zu den bedeutenden Errungenschaften des Friedensschlusses.
Dabei nimmt die Jurisdicción Especial para la Paz (JEP) „Sondergerichtsbarkeit für den Frieden“ eine zentrale Rolle ein. Die beiden anderen fundamentalen Einrichtungen des Systems haben einen außergerichtlichen Charakter, die Einheit zur Vermisstensuche
(Unidad ara la s ueda de ersonas dadas or Desa arecidas und die ommission zur ufkl rung der ahrheit des usammenlebens und der icht- iederholung
(Comisión para el Esclarecimiento de la verdad la Convivencia la No Repetición).
Die JEP ist ein Sonder-Justizorgan, bestehend aus dem Exekutiv-Sekretariat, einem Zweig zur Untersuchung und Vorbereitung von Anklagen (Unidad de Investigación y Acusación) sowie drei Kammern und dem Tribunal para la Paz, der fünf Abteilungen hat. Die JEP hat ihre Arbeit am 15.01.2018 aufgenommen. Ihr durch den Acuerdo Final zugewiesenes Mandat erstreckt sich auf einen Zeitraum von 15 Jahren, plus weiterer fünf Jahre, um die dann noch anhängigen Verfahren zum Abschluss zu bringen.
Die JEP wurde geschaffen, um die Ansprüche der Opfer des bewaffneten Konfliktes auf Wahrheit Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu befriedigen, verbunden mit Garantien auf die Nicht- Wiederholung (der schrecklichen Taten) mit dem Zweck einen stabilen und dauerhaften Frieden zu schaffen.
Die materielle Zuständigkeit der JEP erstreckt sich auf die Prüfung und Bewertung aller „Straftaten die auf Grund oder im Zusammenhang oder direkter Verbindung mit dem
bewaffneten Konflikt“ begangen wurden (Art. 62 ley 1957 / 2019, JEP-Statut).
Nach ganz überwiegender Ansicht erfasst dies den Zeitraum zwischen 1958 und dem 01.12.2016. In den annähernd 60 Jahren sind bis zu 8,7 Mio Gewaltopfer zu beklagen, eine gewaltige Zahl, die die Aufklärungs- und Bestrafungstätigkeit der JEP dahingehend kanalisiert, nicht allen Fällen einzeln und gesondert nachzugehen, sondern eine im Sinne ihres gesetzlichen und richterlichen Auftrags sachgerechte Auswahl und Prioritätensetzung zu treffen, die sich auf die schwersten und kennzeichnenden Fälle konzentriert, gem. Art. 19 ley 1957 / 2019.
Diesen Massgaben entsprechend wurden bislang sieben Großverfahren eröffnet, sog. Makrofälle (macrocasos). Besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit findet der Fall Nr. 003. Dabei geht es um die Ermordung von durch Mittelmännern der kolumbianischen Armee angeworbene junge Männer aus den Armenvierteln der Großstädte, zumeist aus Bogotá (u.a Soacha, Ciudad Bolívar)) , die als gefallene Kämpfer der FARC-EP in den Militärstatistiken verbucht und Jahre später, soweit ihre sterblichen Überreste noch auffindbar waren, aus Sammelgräbern (u.a in Ocaña, Norte de Santander oder Dabeiba, Antioquia exhumiert wurden sog. „falsos positivos“. ach Ermittlungen der kolumbianischen Generalstaatsanwaltschaft soll es sich hierbei insgesamt um mindestens 5000 Einzelfälle handeln.
Die Bestrafungs-, Amnestierungs- und Begnadigungskompetenz der JEP erstreckt sich auf politische oder mit ihnen verbundene Straftaten, gem. Art. 40 ley 1957 / 2019 i.V.m. Art. 23 Gesetz 1820 / 2016. (ley de Amnistia, Indulto y Tratamientos Penales Especiales) Im einzelnen werden Straftaten untersucht, die durch ehemalige Kämpfer/innen der FARC- EP, Angehörige der öffentlichen Gewalt, Staatsbedienstete und Private die Delikte, die mit dem bewaffneten Konflikt im Zusammenhang stehen, begangen haben, sowie – was in der Praxis von untergeordneter Bedeutung ist – Personen, die an sozialen Protesten und inneren Unruhen teilgenommen haben.
Grundsätzlich werden gegen alle Kämper/innen der aufgelösten FARC-EP durch die Übergangsjustiz Untersuchungen durchgeführt, gegen Angehörige der Streitkräfte wird dann ermittelt, wenn Verfahren gegen sie von anderen Gerichten geführt werden oder Straftaten im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt verübt wurden. Zivilisten oder Amtsträger, gegen die Verfahren vor anderen Gerichten anhängig sind oder die Straftaten im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt verübt haben, können sich freiwillig der Justizgewalt der JEP unterwerfen.
Ist lediglich der Tatbestand der Rebellion „rebelión“ erfüllt dazu z hlen die Mitgliedschaft in den FARC-EP, sowie die Teilnahme an Handlungen, die zur Ausübung des Kampfes im Rahmen des bewaffneten Konfliktes gehörten, führt dies im Regelfall entweder zur Amnestie oder mündet in ein Begnadigungsverfahren ein.
Zu den ausdrücklich nicht zur Amnestie vorgesehenen Straftaten gehören Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Genozid, Geiselnahme, Folter, außerordentliche Hinrichtungen, gewaltsames Verschwindenlassen, gewaltsame Vertreibung, Vergewaltigung und sexuelle Gewalt, Kindesentführung und die Rekrutierung Minderjähriger, entsprechend des Römischen Statut zur Einrichtung des internationalen Strafgerichtshofes von 1998. Gleichfalls ausgenommen sind gewöhnliche Straftaten, die keinen Bezug zur „rebelión“ aufweisen rt. 40-42 ley 1957 / 2019.
Generell nicht erfasst von der JEP sind Straftaten, die von Tätern aus den Reihen der paramilitärischen Verbände verübt wurden, diese unterfallen der Gerichtsbarkeit aufgrund des zu Zeiten der Regierung Uribe verabschiedeten Gesetzes über „Gerechtigkeit und Frieden“ aus dem Jahr 2005.
Der Sanktionskatalog für die von den Amnestiekriterien nicht erfassten Straftaten gliedert sich in „eigene“ „alternative“ und „gewöhnliche“ Strafen gestaffelt nach der Auskunfts- und Mitwirkungsbereitschaft des Täters bei der Wahrheitsermittlung, Art. 125 ley 1957 /2019.
Die abgestuften Sanktionen stellen in mehrfacher Hinsicht eine Abweichung vom herkömmlichen Strafverfahren dar. Die Schuld des Täters zum Zeitpunkt der Tatbegehung ist nicht das alleinige Kriterium für die Verhängung einer der zur Auswahl stehenden Sanktionen, bedeutsamer ist die nachträgliche Einstellung des Täters zu dieser Tat. Der Täter, der die Wahrheit umfassend und detailliert schildert und seine Verantwortung anerkennt, kommt in den Genuß der sanciones propias, Die ausgesprochenen Sanktionen beinhalten eine Freiheitsbeschränkung außerhalb des Gefängnisses zwischen 5-8 Jahren, bei einer untergeordneten Beteiligung an der Tat beträgt der Strafrahmen 2-5 Jahre. Die „alternatven“ Strafen kommen denjenigen zu Gute die vor einem Urteilsspruch die Wahrheit anerkennen und beinhalten zwischen 5-8 Jahren Freiheitsstrafe. Für diejenigen Täter, die Wahrheit und Verantwortlichkeit leugnen und für schuldig befunden werden, sind Gefängnisstrafen von bis zu 20 Jahren vorgesehen.
Vor Einführung des abgestuften Sanktionskataloges wurde im Einzelnen und detailliert geprüft, ob er mit international anerkannten rechtsstaatlichen Kriterien zu vereinbaren sei, insbesondere die Proportionalität zwischen Strafmaß und persönlicher Schuld des Täters gewahrt bleibe und kein Zustand der „Straflosigkeit“ herbeigeführt werde. Da die Übergangsjustiz aber neben der Aburteilung der individuell zurechenbaren Tat dem umfassenden Gebot der Schaffung eines stabilen und dauerhaften Friedens zu dienen bestimmt ist, relativieren sich für diesem Sonderfall, den die JEP darstellt, die Funktion der Strafzwecke, und anders als im gewöhnlichen Strafverfahren tritt der Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit dabei noch stärker in den Hintergrund.
Der international renommierte Experte für das komplexe Thema von Übergangsjustiz und Straflosigkeit (impunidad), der Göttinger Strafrechtslehrer Kai Ambos, spricht von einem „S annungs erh ltnis zwischen Gerechtigkeit und Frieden zwischen Recht und olitik vergeltender Justiz, die auf Vergangenheit schaut und einer schöpferischen Justiz, die in die Zukunft blickt“. Die Übergangsjustiz „stehe or der schwierigen ufgabe einen Ausgleich herzustellen zwischen den Forderungen derjenigen nach einer vergeltenden Justiz für alle Straftäter und denjenigen die eine absolute Straflosigkeit für alle Täter einforderten.“ n anderer Stelle hat mbos deutlich gemacht dass das h nomen der Straflosigkeit (von schweren Menschenrechtsverletzungen) gerade nicht der Übergangsjustiz anzulasten sei, sondern vielmehr ein klassisches Charakteristikum Kolumbiens darstelle, und die Arbeit der Übergangsjustiz es nunmehr ermögliche, umfangreiche Sachverhalte, die zum Teil seit Jahrzehnten unberührt geblieben seien, nun endlich strafrechtlich aufzuarbeiten, wie die Tragödie des Palacio de Justicia (1985), die
Morde an den Mitgliedern der ni n atri tica in den 1990er Jahren und andere Fälle mehr.
Link: https://www.semana.com/nacion/articulo/la-fosa-de-debeiba-constituye-una- contribucion-inmensa-a-la-verdad-historica-kai-ambos/652458
Wenn es einen blinden Flick bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs durch die JEP gebe, dann bestehe er in der (bislang) unzureichenden Verfolgung von Tätern aus dem Kreis der obersten Armeeführung und der Politik, meint der erfahrene Menschenrechtsanwalt Reynaldo Villalba vom Colectivo de Abogados „José Alvear Restrepo“ und beklagt, dass es keine Fortschritte bei den Ermittlungen gegenüber zivilen Staatsbediensteten und Finanziers von dieser Art Verbrechen gebe, sowie gegen hohe Staatsdiener die in die F lle der sog. „falsos positivos“ verstrickt seien. Generell besteht die Tendenz, dass die Verantwortlichkeit im Fall der Armeeführung auf niedere Ränge abgewälzt bzw. von Seiten der Politik rundweg geleugnet wird. Aber auch die ehemaligen FARC-Kommandanten sind ihrer Rechenschaftspflicht vor der JEP nicht ausreichend nachgekommen, wie die Chefanklägerin beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Fatou Bensouda bemängelt, die grundsätzlich mit der JEP einvernehmlich kollegial zusammenarbeitet.
Kolumbien unterliegt als Unterzeichnerstaat des Römischen Statuts besonderen Verpflichtungen, hier kann und muss sich die JEP bewähren. Bislang haben die Täter nicht zu befürchten, vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt und verurteilt zu werden.
Unter dem Eindruck der Covid-19-Pandemie und den dadurch bedingten Verfahrensverzögerungen eine Verlängerung des an für sich zeitlich gut bemessenen Mandats der JEP ins Auge zu fassen, halte ich zum jetzigen Zeitpunkt zumindest für verfrüht. Im Grundsatz muss eine Übergangsjustiz, die ihr zugewiesenen Aufgaben und Verpflichtungen in dem dafür vorgesehenen Zeitraum beenden, um Staat und Gesellschaft eine mit bschluss ihrer T tigkeit „erneuerte“ ers ekti e für zukünftige Entwicklungen zu eröffnen. Dieses Ziel muss mit der gebotenen Gründlichkeit und zugleich zügig angestrebt werden.
Der Friedensvertrag hat dementsprechend ein vielversprechendes Instrumentarium geschaffen, um sich der blutigen Vergangenheit zu stellen, er hat aber die kolumbianische Gegenwart (noch) nicht soweit verändert, um die notorische Violencia zu überwinden. Der Frieden ist dort am wenigsten angekommen, wo er am dringlichsten benötigt wird. Die Akteure mögen wechseln, aber die Ermordung sozialer Aktivisten, die Vertreibung der Menschen und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen (zumal in den „ eri heren“ Regionen geht weiter. nd erst recht hat der Friedensschluss bislang keine Veränderungen an den Stellschrauben der kolumbianischen Politik bewirkt, um eine gerechtere Land- und Vermögensverteilung, sowie Bildungs- und Aufstiegschancen für die Angehörigen der weniger privilegierten Schichten zu ermöglichen. Solange dies nicht geschieht, bleibt der erfolgreich initiierte Friedensprozess fragil und jederzeit anfällig für Rückschläge.