Der Friedensprozess und die indigenen Völker in Zeiten von Covid-19

Dr. Frank Semper *

für DKF-Blog

22/06/2020

 

* Frank Semper ist der Autor von Los Derechos de los Pueblos Indígenas en Colombia, Ed. Temis, Bogotá, 2018

  

 

Der Friedensprozess und die indigenen Völker in Zeiten von Covid-19  

 

Werfen wir noch einmal einen kurzen Blick zurück.

Die indigenen Völker und Gemeinschaften sind in den Friedensprozess spät eingebunden worden, obwohl sie in überproportionaler Weise durch den bewaffneten Konflikt beeinträchtigt und geschädigt worden sind und von Beginn der in Havanna seit 2012 geführten Friedensverhandlungen zwischen Regierung und FARC-EP auf eine umfassende Berücksichtigung ihrer Anliegen bestanden haben. Dieses Defizit wurde schließlich mit Abschluss des Friedensvertrages korrigiert, indem ein umfangreiches „Ethnisches Kapitel“ in das Übereinkommen eingefügt wurde, das anerkennt, dass den indigenen Gemeinschaften historisches Unrecht durch und in Folge von Kolonialisierung, Sklaverei und Diskriminierung zugefügt worden ist, dass ihre traditionellen Territorien enteignet und die dort befindlichen natürlichen Ressourcen unrechtmäßig ausgebeutet worden sind.  

Mit Umsetzung des Acuerdo Final vom 24.11.2016 nehmen die indigenen Völker und Gemeinschaften durch ihre Repräsentanten aktiv am Friedensprozess teil und prägen  ihn in wichtigen Bereichen mit.

In meinem letzten Blog-Beitrag vom 05/06/2020 habe ich mich mit dem durch den Friedensvertrag geschaffenen integralen System der Wahrheit, Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung, insbesondere mit der Arbeitsweise der Übergangsjustiz (Jurisdicción Especial para la Paz / JEP) beschäftigt.

http://www.dkfev.de/index.php?section=news&cmd=details&newsid=167

Der Friedensvertrag hat die Existenz und Funktionsweise der indigenen Justiz in Übereinstimmung mit den nationalen und internationalen Normen bekräftigt und weist über die bislang bestehende Rechtslage in Kolumbien hinaus. In den Verfahren vor JEP und Wahrheitskommission wird eine ethnische und multikulturelle Bewertungs- und Beurteilungsperspektive eingeführt. Bei der Implementierung der JEP werden Mechanismen geschaffen, um der verfassungsmäßig verankerten indigenen Justiz (Art. 246) Geltung zu verschaffen und beide Rechtszweige miteinander zu koordinieren. Und mit den indigenen Organisationen wird ein besonderes Programm der Harmonisierung der Rückführung entwurzelter und vertriebener Indígenas auf ihr traditionelles Land erarbeitet, das dafür sorgen soll, die Voraussetzungen für die Wiederherstellung der territorialen Harmonie zu garantieren.      

Im Bereich der Übergangsjustiz haben die indigenen Repräsentanten wertvolle Arbeit geleistet. Das gegenüber der ordentlichen Justiz erweiterte Konzept hat den indigenen Völkern (wie auch den afrokolumbianischen Gemeinschaften) neue Gestaltungsräume eröffnet. Ermöglicht wurde dies u.a. durch die Berufung von vier Richter/innen aus vier unterschiedlichen Ethnien an die JEP, die damit 10% des gesamten Spruchkörpers bilden. Das ist das erste Mal, dass Angehörige der indigenen Völker und Gemeinschaften bei der Besetzung von Richterstellen an einem der höchsten nationalen Gerichte berücksichtigt wurden.

Ein weiterer entscheidender Aspekt ist, dass die Arbeitsweise und Entscheidungsfindung der JEP indigenen Rechtsvorstellungen oftmals besser zu entsprechen vermag, als es die weit stärker von prozessualen Regeln bestimmte ordentliche Gerichtsbarkeit zu leisten im Stande ist. Und die indigenen Gemeinschaften präferieren grundsätzlich schlichtende bzw. streitharmonisierende Lösungen gegenüber der Verhängung von Freiheitsstrafen im staatlichen Vollzug gegenüber Straftätern.

Daher sind nunmehr Fortschritte im Bereich der Koordinierung von indigener und staatlicher Justiz zu registrieren, die bereits die Verfassung von 1991 vorsieht, deren Auftrag aber bislang nicht umgesetzt werden konnte, weil das gegenseitige Misstrauen in die Justizgewalt der jeweils anderen Seite ein unüberwindliches Hindernis darstellt, und die Indigenen befürchten, dass ein Gesetz zur Koordinierung von indigenen Rechten und dem staatlich gesetzten Recht die Geltungskraft ihrer autochthonen Rechte aushöhlen würde.

Augenscheinlich hat der voranschreitende Friedensprozesses in Form der Tätigkeit von JEP und Wahrheitskommission die indigene Gestaltungsmacht vergrößert und zugleich die  Befürchtungen der indigenen Völker verringert, der Staat bezwecke ihre (Justiz-) Autonomie zu beschränken und staatlicher Kontrolle zu unterwerfen.     

So lebt der Friedensprozess, dessen Zweck der Wiedergutmachung gegenüber den Opfern dient, auch und gerade dadurch, dass er die indigenen Völker (und die  afrokolumbianischen Gemeinschaften) nicht allein auf die problematische, weil stigmatisierende Opferrolle reduziert, sondern sie gleichermaßen zu mitgestaltenden Akteuren bei der Aufklärung, Beurteilung und Wiedergutmachung des begangenen Unrechts aufwertet.     

Wenn wir die Aussagen von Hernado Chindoy, dem indigenen Lider aus dem Volk der Inga, in seiner Videobotschaft vom 09.06.2020

/ “Revitalizando nuestra diversidad. Reflexiones de Hernando Chindoy ante el coronavirus“ /

einzuordnen und zu bewerten versuchen, erstaunt auf den ersten Blick, mit wieviel Pragmatismus und Gelassenheit er im Angesicht von Covid-19 die Lebenssituation seines Volkes beschreibt. Naheliegend bemängelt er die mangelhafte medizinische Ausstattung in den indigenen Resguardos und kritisiert die durch den allgemeinen Lockdown herbeigeführten Beschränkungen für die Indígenas, sich fortzubewegen, um die lokalen Märkte mit ihren Produkten wie Agrarprodukte, Fisch oder Kunsthandwerk zu beliefern und dadurch keine notwendigen Einkünfte erzielen zu können. Aber die Indígenas haben schon die Pocken, die Masern, die Konflikte und die Feuerwaffen überlebt, dank der Weisheit ihrer Großväter und Großmütter. Mit anderen Worten, sie haben (wie man heutzutage in Bezug auf die Seuche zu sagen pflegt) eine Resilienz erworben, um auch diese Krise überleben zu können. Eine Feststellung, die belegt, dass die indigenen Völker und Gemeinschaften in weiten Teilen Kolumbien mit vielfältigen Gewaltszenarien konfrontiert sind, unter denen Covid-19 nur einen weiteren, zusätzlichen Bedrohungsfaktor darstellt. 

Das traditionelle Land der Quechua sprachigen Inga in den Departements Nariño und Putumayo sowie das im nördlichen Cauca angrenzende der Nasa und das weiter westlich gelegene Land der Awá bilden seit Jahren den Schauplatz für die in jüngster Zeit wieder anwachsende Kokainproduktion und zugleich den wichtigsten Drogenkorridor im Land zwischen Amazonas und Pazifikküste. Die Indígenas befinden sich zwischen den Fronten der Drogenmafia, die ihr Land nach Belieben okkupiert und ihre Bewohner terrorisiert, und der Militarisierung ihrer Region durch kolumbianische Heeresverbände. Noch sind das Blut und die Tränen im angrenzenden Departement Cauca nicht getrocknet, nachdem bewaffnete Killer im Auftrag der Drogenmafia wiederholt Massaker unter den Nasa-Gemeinschaften im Herbst des vergangenen Jahres verübt haben. 

Vor elf Jahren hat der Verfassungsgerichtshof  mit seinem Beschluss, CC-Auto 004/2009,die kolumbianische wie die Weltöffentlichkeit mit der Anklage aufhorchen lassen, dass 34 indigene Völker physisch und kulturell vom Verschwinden bedroht seien, durch schwere, fortgesetzte und systematische Menschenrechtsverletzungen, ausgelöst durch gewaltsame Vertreibungen durch die am internen Konflikt beteiligten bewaffneten Akteure. Und er hat den kolumbianischen Staat verpflichtet, ein Programm mit Rechtsgarantien und für jedes der benannten Völker einen Rettungsplan zu entwickeln  (planes de Salvaguarda).

Der bahnbrechende höchstrichterliche Beschluss, der am Ende der zweiten Präsidentschaft von Álvaro Uribe erfolgte, hat wesentlich dazu beigetragen, dass die indigenen Völker den über lange Zeit gestörten und unterbrochenen Dialog mit dem Staat und seinen Institutionen bei Amtsantritt des neu gewählten Präsidenten Manuel Santos wieder aufgenommen haben.

Und zum zentralen Forum des Dialogs hat sich seit dieser Zeit die nationale Mesa de Concertación entwickelt, bei der sich die Abgesandten der Regierung mit den Repräsentanten der größten indigenen Organisationen austauschen und nach Lösungen zur Bewältigung von Krisen suchen sowie auch jetzt zu Covid-19.     

Leider versanden die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Dialog je weiter weg von Bogotá man sich bewegt, und die Arbeit der regionalen und lokalen mesas lässt zu wünschen übrig.    

Wenn Hernando Chindoy gleichwohl Zuversicht verbreitet, dann auch deshalb, weil er den bewaffneten Akteuren in seinem Land schon mehrmals mutig die Stirn geboten hat, als die Inga die Kokain- und Opiumproduktion in den Jahren 2002/03 aus dem Resguardo Aponte (Dep. Nariño) verbannen konnten und die örtliche Heereskompanie gleich dazu. Heute wächst auf vielen der zurückgewonnen Flächen neben den Agrarprodukten für den Eigenbedarf auf 330 Hektar organischer Kaffee, der bis nach Europa Abnehmer findet. Daher sind Hernando Chindoy und die anderen Wortführer der Inga fortgesetzt Bedrohungen durch bewaffnete Akteure ausgesetzt, die in den indigenen Territorien ihr Unwesen treiben. Covid-19 kann Hernando Chindoy unter solchen Umständen nicht aus der Ruhe bringen. Die Inga und die ihnen benachbarten Kamëntsá im Valle del Siboundoy gelten als die besten Naturheiler in Kolumbien. Ihr Wissen umfasst die medizinische Anwendung von mehr als 240 Heilpflanzen, darunter acht unterschiedliche Arten des borachero wie el guamuco, el biagán und la culebra, zudem quindé gegen Rheuma, amarrón zur Wundheilung und la munchira gegen Parasitenbefall.

Die heilige Pflanze der Inga, das sagenumwobene yagé, das bei sachgemäßer Anwendung und unter Indigenen eingenommen, Körper und Geist reinigt, hatte einst den legendären amerikanischen Schriftsteller William S. Burroughs in die Gegend gelockt und heutzutage gelegentlich blauäugige Traveller, die alles daran setzen, sich in einen exotischen Rausch mit ungewissen Ausgang zu versetzen.