Beitragsautor:
Dr. Frank Semper (Text und Bilder)
DKF Rheinland-Ruhr
Für den Blog im Dezember 2021
Alle Beitragsautoren des DKF-Blogs
vertreten ihre persönlichen Ansichten.
“Colombia hoy es un símbolo de paz en el mundo. El mensaje fundamental es: en un mundo en el que hay divisiones geopolíticas, conflictos interminables, multiplicación de nuevas guerras, Colombia dice que este es el momento de invertir en la paz.“
(UN Generalsekretär António Guterres anlässlich seines Kolumbien Besuches vom 22.-24 November 2021)
„Lamentablemente la violencia política define el ethos de nuestra sociedad, ya que en Colombia se ha borrado la diferencia entre combatientes y población civil.”
(Doris Salzedo, anlässlich der Ausstellung ihres jüngsten Werks ‘Vidas robadas’ zu Ehren der während des Paro Nacional Getöteten, Juni 2021)
“Colombia is no longer at war, but it is not yet at peace.“
(The Economist, November 2021 )
„Der Frieden in Kolumbien ist relativ.“
(Sonderbeauftragter des deutschen Aussenministers für die Unterstützung des Friedensprozesses in Kolumbien( Tom Koenigs (2017)
Fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens (Acuerdo Final) vom 24.11.2016 zwischen dem Präsidenten Juan Manuel Santos und dem Kommandanten der FARC, Rodrigo Londono, schaut die internationale Öffentlichkeit mit Sympathie auf Kolumbien, umso mehr, als inzwischen in weiten Teilen der Welt die Zahl der blutigen Konflikte zugenommen hat.
Das Land hat viel erreicht. Die Arbeit der im Rahmen des Abkommens neu geschaffenen Institutionen wird zu Recht gelobt und darf als beispielhaft gelten. Die Wahrheitskommission und die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) wühlen sich mit unermüdlichem Engagement durch riesige Aktenberge, befragen Tausende von Zeugen und transkribieren ihre Aussagen. Die Wahrheitskommission wird durch den erfahrenen Jesuitenpater Francisco de Roux seit ihrer Gründung mit Augenmaß und Gottvertrauen hervorragend geleitet. Der bald vorgelegte Abschlussbericht wird mit Spannung erwartet, weil er die Zäsur zwischen dem Kolumbien des bewaffneten Konfliktes und dem zukünftigen Weg des Landes aufzeigen wird.
Seit einem Jahr steht an der Spitze der JEP der ehemalige Vorsitzende des Verfassungsgerichtshofes und einstige Defensor del Pueblo Eduardo Cifuentes,, einer der versiertesten und angesehensten Juristen Lateinamerikas. Daneben arbeiten viele weitere ehrenwerte Persönlichkeiten Tag für Tag daran, den fundamentalen Rechten der Menschen nach Wahrheit und Wiedergutmachung Geltung zu verschaffen, mit dem festen Willen, aus Kolumbien ein besseres Land zu machen.
Und dennoch sind die noch unbewältigten Probleme gewaltig. Viele KolumbianerInnen haben nicht den Eindruck in einem befriedeten, meinungsoffenen und gerechten Staat zu leben. Erst recht nicht nach den Gewaltexzessen während des Paro Nacional (Nationalstreik) in diesem Sommer. Und so fällt das durchaus berechtigte Lob des UN-Generalsekretärs auch deshalb ein wenig zu überschwänglich aus, weil sich die Vereinten Nationen den Friedensprozess in Kolumbien auch als Erfolg auf ihre eigenen Fahnen schreiben möchten. In einer Welt, deren Konflikte zusehends unübersichtlicher geworden sind, erscheint das institutionelle System in Kolumbien zwar gefestigt und politische Auseinandersetzungen und Wahlkämpfe um die Macht im Staate werden überwiegend mit demokratischen Mitteln geführt, allerdings profitieren von der neu gewonnen Normalität nicht alle im gleichen Maße, und die andauernde Pandemie hemmt das wirtschaftliche Entwicklungspotential Kolumbiens erheblich. Bemerkenswert ist allerdings, dass Kolumbien bei allen Defiziten in punkto Menschenrechte und einer fortgesetzt prekären Sicherheitslage in vielen peripheren Zonen, doch so etwas wie ein regionaler Stabilitätsanker geworden ist, während sich das einst blühende Nachbarland Venezuela in ein Schattenreich verwandelt hat, das die Menschen in Scharen verlassen.
I
Die Vorkommnisse während des Paro Nacional, der am 28. Mai 2021 ausgerufen wurde und über Wochen zu landesweiten Protesten führte, verbunden mit einer Vielzahl von Gewaltopfern, hat die JEP in einer aufschlussreichen Begutachtung politisch und historisch einzuordnen versucht.
Gravedad de la situacion de derechos humanos en Colombia
El caso del paro nacional y sus repercusiones sobre el Sistema Integral para la Paz (28 de abril al 30 de mayo de 2021)
https://www.jep.gov.co/Sala-de-Prensa/Documents/Gravedad%20de%20la%20situaci%C3%B3n%20de%20derechos%20humanos%20en%20Colombia_PN_VF.pdf?csf=1&e=cgsxbu
Die Geschehnisse des Sommers 2021 sind hinsichtlich der Zahl der Todesopfer unter den Demonstrierenden sowie offenbar geplanter sexueller Übergriffe auf DemonstrantInnen durch die staatlichen Sicherheitskräfte und die Sonderpolizeieinheit ESMAD in dieser Form und Anzahl in der Vergangenheit noch nie registriert worden. Und seit den Unruhen in den 1970er Jahren und dem noch weiter zurückliegenden „Bogotazo“ von 1948, dem bewaffneten Volksaufstand nach der Ermordung des radikalliberalen Führers Gaitan, lagen in Bogotá nicht mehr so viele Gewalttote auf den Straßen wie in diesem Jahr.
Die aktuelle Lage ist daher grundsätzlich verschieden von den Gewaltszenarien, die sich jahrzehntelang in den abgelegenen Landesteilen, im Amazonasgebiet, in der Pazifikregion, in Catatumbo, Magdalena Medio, Bajo Cauca, Montes de María etc. abgespielt haben und immer noch abspielen, weit weg und vor den Augen einer nationalen wie internationalen Öffentlichkeit weitgehend verborgen, Verabscheuungswürdige Praktiken, die man glaubte durch den Friedensschluss überwunden oder jedenfalls hinter sich gelassen zu haben.
Doch seit Inkrafttreten des Friedensabkommens steigt auch die Zahl von Morden an Sozial- und FriedensaktivistInnen kontinuierlich und das hat (noch immer) nicht dazu geführt, dass die kolumbianische Regierung die eklatantesten Defizite beim Menschenrechtsschutz in den Griff bekommt, indem sie u.a. in den von den FARC geräumten Territorien konsequent Präsenz zeigt, den gefährdeten Personengruppen den geeigneten Schutz zukommen lässt und wirkungsvolle zivile Institutionen aufbaut.
II
Der Amtsvorgänger des derzeitigen Präsidenten Duque, Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos, hat die internationale Kritik während seiner Regierungszeit stets mit Bedacht aufgenommen und in seine Politik integriert, im Sinne des Landes und zum Wohle seiner Landsleute. Gegenüber den westlichen Regierungen ist er in Menschenrechtsfragen – in allen anderen Politikbereichen gab es sowieso kaum Differenzen – als verlässlicher Partner aufgetreten und hat sich große Anerkennung erworben. Sein internationales Ansehen fusst auf seinem Einsatz für den Frieden, der als ehrlich und uneigennützig angesehen wird und nicht als bloßes diplomatisches Agieren im Ränkespiel kalkulierter Machtinteressen.
Doch auch zu seiner Person sollten einige kritische Fragen erlaubt sein, die bislang unbeantwortet geblieben sind, erneut und umso mehr nach seiner wortreichen Erklärung gegenüber der Wahrheitskommission am 11.Juni 2021 hinsichtlich der Verstrickung des Staates und seiner obersten Repräsentanten in dem vor der JEP verhandelten Makro-Fall 003 der sog. „falsos positivos“. Dabei ging es insbesondere um Fragen seiner persönlichen wie politischen Verantwortung als Verteidigungsminister im Kabinett seiner Vorgängers Uribe in den Jahren 2006-2009. Die umfangreiche Erklärung vor der Wahrheitskommission wirft mehr Fragen auf, als sie zu beantworten vermag.
Santos wird sich auf seinen Auftritt vor der Wahrheitskommission gründlich vorbereitet haben. Er weiß, dass jede seiner Einlassungen zum bewaffneten Konflikt besonderer Aufmerksamkeit und anschließender politischer Analyse zuteil wird. Daher musste seine Erklärung überzeugend und ehrlich sein und seine Rolle als Friedensarchitekt in all ihrer Komplexität und Verantwortungsbereitschaft darstellen. Und so ist seinem Auftritt nicht nur die Makellosigkeit eines hehren moralischen Anspruchs abzulesen, sondern zugleich ein Bekenntnis zu den eigenen politischen wie persönlichen Fehlern während seiner Zeit als Verteidigungsminister sowie die Bereitschaft aus den Fehlern für sein anschließendes Handeln gelernt und die richtigen Schlüsse gezogen zu haben. Umso strahlender fällt dann die Bewertung der anschließenden eigenen Präsidentschaft aus.
Zurück zu den Fakten.
Eine stichhaltige Begründung für die hohe Zahl der ermordeten “falsos positivos“ durch Angehörige der Streitkräfte hat der frühere Präsident und Verteidigungsminister nicht liefern können. Er hat zwar die Angehörigen der Opfer um Verzeihung gebeten, dennoch haben wir es überwiegend mit einer Verteidigungsrede in eigener Sache zu tun. Santos behauptet über seine Zeit als Verteidigungsminister dem Präsidenten untergeordnet gewesen zu sein, keine eigenständige Politik betrieben zu haben oder betreiben zu können, als die des Präsidenten. Man fragt sich, ob Santos an einen Rücktritt gedacht haben mag, als er einsehen musste, dass Uribe in keinster Weise an Verhandlungen mit den FARC interessiert war, sondern ausschließlich auf deren militärische Bekämpfung und vollständige Vernichtung setzte. Santos geht es heute darum, die politische Verantwortung auf den damaligen Präsidenten Uribe abzuwälzen, der aus seiner Sicht bei der Bekämpfung von „Narcoterroristen“, und als solche behandelte Uribe die FARC-Guerilla, die Anwendung des humanitären Völkerrechts a priori ausschließen konnte und wollte.
Santos beruft sich darauf, eine Politik der Implikation der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts bei den Streitkräften in Absprachen mit der internationalen Gemeinschaft und den Vereinten Nationen initiiert und umgesetzt zu haben. Trotz aller Bemühungen in der Schulung des Militärs bei Fragen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts kommt er
in der Rückschau zu der Erkenntnis, dass der Konflikt zu Beginn seiner Amtszeit durch eine Militärdoktrin gekennzeichnet gewesen sei, wie sie die USA bei der Bekämpfung des Vietkong in Vietnam verwendet haben, die darin bestand, ohne Rücksicht auf die militärische oder zivile Herkunft der Opfer lediglich die Zahl der Gefallenen zum Gradmesser des militärischen Erfolges zu machen. Präsident Uribe habe diese katastrophale Doktrin gefördert, er habe aber ihm (Santos) nach dem durch ihn eingeleiteten Kurswechsel bei der Bekämpfung der Farc auch nicht widersprochen oder ihm dahingehende Anweisungen erteilt.
Durchweg Aussagen, die in höchstem Maße problematisch und widersprüchlich sind, die auch nicht durch den 2016 erfolgten Friedensschluss zu einer rein akademischen Frage für HistorikerInnen geworden sind.
III
Die FARC haben sich aufgelöst und zu einer politischen Partei gewandelt, die zunächst ihr Akronym bei veränderter Bedeutung beibehalten wollten. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2018 holten sie nur wenige Stimmen, sind aber dennoch mit zehn Sitzen im Kongress vertreten, wie es der Friedensvertrag vorsieht. Inzwischen haben sie sich in “Comunes“ umbenannt.
Die einstigen FARC-EP waren in den von ihnen kontrollierten Gebieten auch ein militärisch straff organisierter Ordnungsfaktor, der eine gewisse Stabilität, so willkürlich und menschenverachtend sie auch ausgeübt wurde, aufrechterhalten konnte. Das ist ein entscheidender Grund, warum mit den FARC als Organisation überhaupt (Friedens-) Gespräche möglich waren, die vor fünf Jahren zum Friedensschluss geführt haben.
Mit dem Ejercito de Liberacion Nacional (ELN) gestaltet sich ein Dialog ungleich schwieriger, weil sich diese zahlenmäßig kleinere Guerilla durch ihre dezentrale und unbeständige Organisationsform ganz gezielt jeglicher Verantwortung konsequent verweigert. Die Regierung Santos war sich darüber im Klaren, dass ein umfassendes Friedensabkommen auch den ELN hätten mit einschließen müssen. Doch dazu ist es nicht gekommen. Der von der Regierung zu den Verhandlungen (zwischen 2013-2017) entsandte General des Heeres, Eduardo Herrera Berbel, hat ein Buch über seine Erfahrungen zur Verhandlungsstrategie mit den ELN geschrieben, in dem er ausgesprochen offen und selbstkritisch über die Fehler und Versäumnisse des Dialogs spricht. Die Regierungsseite sei unzureichend vorbereitet in die Gespräche gegangen, in der Annahme, man könne das in den Verhandlungen mit den FARC eingeübte Procedere und die erzielten Ergebnisse in ähnlicher Form auf den ELN übertragen. Doch der ELN sei nicht bereit zum Friedensschluss gewesen, sondern habe die Regierungsposition lediglich auf ihre Ernsthaftigkeit hin prüfen wollen.
Als mutmassliche Angehörige des ELN am 17. Januar 2019 ein Attentat mit einer. Autobombe auf die Escuela de Cadetes de Policia Grl. Santander in Bogotá verübten, bei dem über zwanzig junge Kadettenschüler getötet und über einhundert verletzt worden waren, wurden die Friedensgespräche, die inzwischen in Quito, Ecuador von Regierungsseite durch den ehemaligen Umweltminister und späteren kolumbianischen Botschafter in Berlin, Juan Mayr Maldonado, geführt wurden, offiziell für beendet erklärt. Offizielle Gespräche sind bis heute nicht wieder aufgenommen worden. Ob auf informeller Ebene zwischen Regierung und ELN wieder gesprochen wird, ist von keiner Seite verlautbart geworden, aber nicht einmal unwahrscheinlich und in Anbetracht der desolaten Menschenrechtslage in den Zonen, in denen der ELN Territorialgewalt ausübt, nicht nur wünschenswert, sondern notwendig, um weiterem Blutvergießen Einhalt zu gebieten. Nach Einschätzung von General Herrera Berbel stünden die Chancen hierfür gar nicht einmal so schlecht.
Den ELN zur Aufgabe zu zwingen wird nicht die einzige knifflige Herausforderung im Bereich der inneren Sicherheit für die nächste kolumbianische Regierung darstellen. Die BürgerInnen erwarten auch überzeugende Lösungen, wie dem grassierenden Bandenunwesen versprengter und wiederholt neu formierter paramilitärischer Gruppen und Guerilla-Dissidenten Einhalt geboten werden kann.
¿Un proceso de paz inútil? Eduardo Herrera Berbel, Editorial Planeta, Bogotá, 2021 – Kindle Version , € 8,99
IV
Kolumbien ist neuerdings auch in den Fokus internationaler Flüchtlingsströme geraten. Ausländische Flüchtlinge bewegen sich nicht nur zu Tausenden über das Mittelmeer oder versuchen von Mexiko aus in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Inzwischen existiert auch ein Massenexodus durch das Dschungelgebiet des Darien zwischen Kolumbien und Panama. Noch vor zwanzig Jahren war diese Route Herausforderung und Verlockung zugleich für abenteuerlustige Traveller, die das fehlende Teilstück der Carretera Panamericana nicht mit dem Flugzeug überqueren wollten. Schon bevor sich in den 1990er Jahren ein allgemeines Bewusstsein von der einzigartigen biologischen Artenvielfalt dieser Region entwickelte, die den Erhaltungsgedanken in den Vordergrund rückte, hatten die am Panamakanal residierenden Vereinigten Staaten keinerlei Interesse diese Region zu erschließen, sei es um eine Ausbreitung der Maul- und Klauenseuche zu verhindern, sei es um den Drogenschmuggel aus Kolumbien zu erschweren. Niemand wollte wirklich diesen „Stöpsel“ ,wie der Tapon del Darien genannt wird, aus der Flasche ziehen, nicht die dort lebenden indigenen Gemeinschaften der Kuna und Emberá, nicht die eingedrungenenKolonisten und erst recht nicht die sich ausbreitenden marodierenden Banden aus ELN und paramilitärischen Verbänden, die sich nunmehr nicht nur am Drogengeschäft, sondern in wachsendem Maße am illegalen Menschenhandel bereichern.
Kann man sich wirklich vorstellen, welche Tragödien sich heutzutage auf diesem nunmehr ausgetrampelten Dschungelpfad zwischen dem Río Atrato und der Straßenanbindung in Yaviza (Panama) abspielen? Mehr als 100.000 Menschen sollen in diesem Jahr durch den Darien geschleust worden sein. Eine unfassbare Zahl für einen noch vor kurzem überwucherten Dschungelpfad, auf dem dem einsamen Wanderer vor zwanzig Jahren noch Tapir und Jaguarentgegenkamen. Die Flüchtlinge auf dieser Route, in ihrer großen Zahl HaitianerInnen und
Menschen aus aller Herren Länder, die in Südamerika gestrandet sind, werden von dem einstigen Tierreichtum so gut wie nichts erfahren, außer Moskitos, Zancudos, Jejen, den ewigen Plagen des kolumbianischen Regenwaldes. Sie werden die unaufhörlichen Regenfälle nicht vergessen, die die zu querenden Flüsse in reißende und lebensgefährliche Hochwasser verwandeln und die bewaffneten Banden, die ihnen den beschwerlichen Weg zu Hölle machen. Wer Panama-City erreicht, hat überlebt, mehr auch nicht, denn das Sehnsuchtsziel, die Vereinigten Staaten sind auch dort in weiter unerreichbarer Ferne.