Beitragsautor:
Dr. Frank Semper
DKF Rheinland / Ruhr
für den Blog des DKF Februar 2021
Lateinamerika hat sich zum Epizentrum der Covid-19 Pandemie entwickelt, und auch Kolumbien zählt zu den besonders betroffenen Ländern. Nicht nur die Inzidenzwerte und die Zahl infektionsbedingter Todesfälle sind außerordentlich hoch, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie treffen den Kontinent weit stärker als andere Weltregionen. Die in den letzten Jahren erzielten Fortschritte bei der Armutsbekämpfung und beim Abbau der extremen Ungleichheit zwischen Arm und Reich sind weitgehend ausradiert worden, und es wird vermutlich Jahrzehnte dauern, die eingetretenen und fortdauernden schädlichen Auswirkungen zu überwinden.
In diesem Kontext stellen die indigenen Völker in mehrfacher Hinsicht eine besonders gefährdete Personengruppe dar, die in der weltumspannenden Krise aus dem Blick zu geraten droht, wie eine aktuelle Studie der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (Comision Economica para America Latina y el Caribe – CEPAL -) betont, die sich nun erstmals mit der Thematik beschäftigt hat.
El impacto del COVID-19 en los pueblos indigenas de America Latina-Abya Yala. Entre la invisibilizacion y la resistencia colectiva
https://www.cepal.org/es/publicaciones/46543-impacto-covid-19-pueblos-indigenas-america-latina-abya-yala-la-invisibilizacion
Ich werde im Folgenden die zentralen Punkte der Studie zusammenfassen und auf einige Besonderheiten der kolumbianischen Situation hinweisen.
Insgesamt stellt die Studie fest. Die Indigenen In Lateinamerika sind einem erhöhten Ansteckungsrisiko aufgrund ihrer familienbezogenen und kommunitären Lebensweise ausgesetzt. Indigene Armut und Unterentwicklung werden durch Covid-19 generell verstärkt.
Im Einzelnen.
Eine erhöhte Vulnerabilität besteht für ältere Indígenas (ab 60 J.), weil sie entsprechend ihrer Altersgruppe oftmals Vorerkrankungen (u.a. Bluthochdruck und Diabetes) aufweisen, und weil sie als Träger und Übermittler des traditionellen Wissens für den Bestand und die Weiterentwicklung der indigenen Gemeinschaften unersetzlich sind.
Eine besorgniserregende Vulnerabilität besteht für indigene Frauen und Kinder. Sie werden infolge der Gesundheitskrise vermehrt Opfer Gender bezogener Gewalt. Die Benachteiligung der indigenen Frauen betrifft insbesondere den Bereich sexueller Selbstbestimmung, sexueller Aufklärung, Geburtenkontrolle. Sie haben eine vermehrte Last im Haushalt zu tragen und finden noch schwerer Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten als vor dem Ausbruch der Pandemie.
Indigene Kinder sind in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Erziehung betroffen. Hierbei legt die CEPAL-Studie ein besonderes Augenmerk auf die Versorgung der indigenen Gemeinschaften mit dem Internet als Unterrichtsmedium. Es finden sich jedoch keine Ausführungen zum spezifischen Einsatz des Mediums im ethno-kulturellen Unterricht.
Eine erhöhte Vulnerabilität besteht für die in (freiwilliger) Isolation lebenden Indigenen, weil sie gegenüber allgemeinen Infektionskrankheiten keine Abwehrkräfte entwickelt haben, weil sie nicht in die staatlichen Gesundheitssysteme eingebunden sind, und weil ein erzwungener Kontakt durch die Außenwelt ihre kulturelle und physische Überlebensfähigkeit gefährdet.
Sowohl die in den Städten als auch die auf dem Lande lebenden Indigenen sind einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt, wenn es darum geht, sich effektiv vor einer Ansteckung mit Covid -19 zu schützen.
Bemerkenswert ist, dass Kolumbien im lateinamerikanischen Kontext (noch weit vor Guatemala 60% ) den höchsten Anteil der auf dem Lande (in den traditionellen indigenen Resguardos und Territorien) lebenden Indígenas aufweist, 79 %.
Eine Besonderheit, der die CEPAL-Studie nicht weiter nachgeht. Daher sei an dieser Stelle nochmals betont, der Bestand der indigenen Resguardos und Territorien ist die fundamentale Grundlage für die Integrität und Identität der indigenen Völker und Gemeinschaften. Der Erhalt und die Fortentwicklung der indigenen Kulturen ist nur dann gesichert, wenn sie nicht innerhalb ihrer Territorien der Gewalt von parastaatlichen und kriminellen Gruppen schutzlos ausgeliefert sind, die indigene Selbstverwaltung nicht von gesetzlichen oder administrativen Maßnahmen behindert wird und die Indigenen in ihren Entfaltungsmöglichkeiten nicht auf den räumlichen Bereich ihrer Territorien beschränkt werden. Wozu derartige Einschränkungen der indigenen Selbstbestimmung bzw. Autonomie führen, zeigt beispielhaft die aktuelle Lebenswirklichkeit der Nasa im Cauca, wo der von gewalttätigen Akteuren hineingetragene Drogenkrieg eine fortgesetzte Beeinträchtigung und Zersetzung des indigenen Gemeinschaftslebens bewirkt. Aufgrund der aktuellen Sachlage ist die Einhaltung von Hygienemaßnahmen im Rahmen der Covid-19 Bekämpfung auch in vielen anderen indigenen Territorien ein kaum zu realisierendes Unterfangen.
An dieser Stelle sei auf einige frühere Blog-Einträge verwiesen. Zur Situation im kolumbianischen Amazonasgebiet: La situación de los indígenas en los tiempos de la pandemia Corona und im Choco: El Chocó – ein gewalttätiges Paradies
Durch die fortgesetzt desolate Sicherheitslage in vielen indigenen Territorien sowie den vor Ort kaum vorhandenen Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten sucht eine wachsende Zahl von Indigenen ein Auskommen in den Städten, obwohl dort in aller Regel nur prekäre Beschäftigungsverhältnisse im informellen Sektor zu erlangen sind. Hinzukommt eine nach wie vor hohe Zahl an Vertriebenen aus dem Bereich der indigenen Territorien. In den Zeiten von Covid-19 muss daher ein verstärktes Augenmerk auf die in den Städten lebenden Indigenen geworfen werden. Die durch CEPAL ermittelten Zahlen zeigen insoweit ein eindeutiges Bild. In den Großstädten tragen die Indígenas ein überproportional erhöhtes Risiko an Covid-19 zu erkranken und zu versterben.
Im städtischen Raum sind die Möglichkeiten der regelmäßigen Versorgung mit Trinkwasser für Indigene problematisch bzw. nicht existent, schon deshalb weil auch ihre allgemeine Wohnsituation prekär ist. Laut der CEPAL-Studie ist die Versorgung der Indigenen in Kolumbiens (Groß-) Städten im lateinamerikanischen Kontext besonders unzureichend. Jede/r zweite Indigene aus dieser Gruppe verfügt über keinen regelmäßigen Zugang zu sauberen Trinkwasser. Das ist auch im Verhältnis zur übrigen städtischen Bevölkerung ein überragender Prozentsatz. Die enormen Ungleichheiten denen die Indigenen in Kolumbiens Großstädten ausgesetzt sind, sind dort am weitesten ausgeprägt, wo ihre Zahl im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung am geringsten ist (also in Bogotá. Medellín und Cali).
Es reicht daher nicht aus, dass die kolumbianische Regierung ihre Hilfsprogramme auf die traditionellen Territorien beschränkt. Die indigene Realität hat sich auch in Kolumbien verändert und es steht zu erwarten, dass in Zukunft noch weit mehr Indigene (zumindest temporär) in den Städten leben werden, ein Umstand auf den die kolumbianische Politik bis heute nicht vorbereitet ist.
Laut CEPAL besteht eine besondere Gefährdungslage für die in den tropischen Regenwäldern lebenden indigenen Völker. In Kolumbien betrifft dies zumal die indigenen Völker und Gemeinschaften im Amazonasregenwald und im Chocó. Grundsätzlich hat der Druck auf die tropischen Wälder durch externe Bedrohungen, u.a. Minentätigkeit, Erdölexploration, Holzeinschlag, Weidewirtschaft, Landraub seit dem vergangenen Jahrzehnt massiv zugenommen.
Die Studie zitiert die Rechtsanwältin Fany Kuiru von der OPIAC (Organizacion de los Pueblos Indígenas de la Amazonía Colombiana) von deren unterstützenswerter Arbeit ich schon berichtet habe.
https://www.gofundme.com/f/indigenous-colombian-women-emergency-response/
„Kein Tropfen Blut mehr, kein Schmerz mehr für die Konsumartikel in den Städten der Welt. Die Gemeinschaften des Waldes, des Landes und der Städte haben eine ‚Minga‘ des Widerstandes ausgerufen, um der Zerstörung und dem Hunger entgegenzuwirken, die nach der Pandemie andauern werden, weil der Ökozid, der Ethnozid und der Terrazid (die absichtsvolle Zerstörung des Planeten) schlimmer voranschreiten als der Virus.“
(Fany Kuiru)
Um ihre Ernährung sicherzustellen sind die Indigenen der tropischen Wälder unmittelbar auf ein funktionierendes Ökosystem angewiesen. Denn die in den Wäldern lebenden Indígenas haben angesichts der Pandemie keine Ausweichmöglichkeiten außer der, sich in einen immer kleiner werdenden Bereich abgelegener Wildnis zurückzuziehen. Sie verfügen im allgemeinen nicht über Einkommensquellen, sind kaum in die bestehenden staatlichen Sozialsysteme eingebunden. Sie haben in vielen Fällen keinen (Grund-) Schulabschluss und mehrheitlich keinen Zugang zu Elektrizität betont die Studie.
Seit Covid-19 werden die Kontrollpflichten der Staaten, die Integrität der indigenen Territorien sicherzustellen, vielerorts vernachlässigt, weil die allgemeine Gesundheitskrise zu Budget und Hygiene bedingten Einschränkungen geführt hat, soweit zutreffend die Studie.
Abschließend. Die CEPAL- Studie ist wichtig für eine erste Bestandsaufnahme zur Klärung der Frage, welche Auswirkungen Covid-19 auf das Leben der indigenen Völker und Gemeinschaften in Lateinamerika hat und welche Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Situation ergriffen werden müssen.
„Ni una sola gota mas de sangre y dolor de los productos de consumo en las ciudades del mundo. Hay una ‚minga‘ de resistencia dentro de las comunidades del bosque, el campo y las ciudades que se organizan frente a la devastación y el hambre, que continuara después de esta pandemia, porque el ecocidio, etnocidio y terricidio avanzan peor que el virus.“
(Fany Kuiru)
Allerdings lässt sich das indigene Leben grundsätzlich nicht widerspruchslos in Statistiken fassen. Daher erscheinen einige der gezogenen Schlussfolgerungen und Empfehlungen zu schematisch. Es fehlt (bis auf das Zitat von Fany) an einer Beschreibung der Covid-19 Situation aus der indigenen Perspektive, die sich aus der zugrunde gelegten Methodik, nicht umfassend erschließen lässt.
Daher an dieser Stelle ergänzend. In Kolumbien (und anderswo) existieren vorbildliche Arbeiten, die aus der indigenen Perspektive verfasst sind und diesbezüglich Anhaltspunkte liefern. Zu nennen ist HE YAIA GODO~BAKARI (2015), eine Arbeit der Gemeinschaften vom Río Pira Paraná (Dep. Vaupes), die aus der Notwendigkeit erwachsen ist, den Wert des traditionellen Wissens über das Land zu stärken, um Lösungen in Bezug auf das Medioambiente zu entwickeln. Es ist die Verschriftlichung der indigenen Weltsicht verfasst in eigenen Worten und frei von akademischen Interpretationen und Theorien, die u.a. als Grundlage für den Aufbau eines eigenständigen Erziehungssystem dienen soll. Auch die mir durch meinem Freund Nelson Ortiz übermittelte Arbeit von Celimo Nejedeka, ein weiser Muinane vom Medío Caquetá, CULTIVANDO LA CIENCIA DEL ARBOL DE LA SALUD (2019), beschäftigt sich eingehend mit den Heilkräften der Natur und ihren mythologischen Grundlagen, um einen Weg zum buen vivir für alle (bekannt auch unter der Quechua-Bezeichnung Sumak kawsay) aufzuzeigen.
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