Garcia-marquesk

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Corona-Update
San Jerónimo 20. Juli 2020
Wolfgang Chr. Goede

 

Heute am 20. Juli 2020 ist Kolumbiens Nationalfeiertag*. 210 Jahre Unabhängigkeit. Eine ein wenig andere Würdigung aus San Jerónimo, Antioquia.

Garcia-marquesk ist eine kühne Wortschöpfung des Autors. Die deutsche Adjektivierung Gabriel Garcia Márquez‘. Wie kein anderer steht der Nobelpreisträger für Kolumbien, seinen Surrealismus und seine Magie, groteske Absurditäten, singuläre Schönheiten und Charme. Diesen Cocktail hat Gabo meisterhaft in Worte geschlagen. „100 Jahre Einsamkeit“ und viele seiner Werke sind Mythen und Märchen aus der Vergangenheit und gleichzeitig Abdruck einer Realität, die abendländische Rationalität und Aufklärung scheinbar sprengen. Fragt sich, ob nur Kolumbien garcia-marquesk ist. Sind der Rest der Welt, unsere Kultur vielleicht sogar garcia-marquesker?

Es ist 8.30 Uhr in der Frühe. Unser Kühlschrank schwächelte. Jetzt hat er zu brummen aufgehört. Darin alles lauwarm. Das geht schon eine Weile so. Reparaturleute kommen und gehen. Unverrichteter Dinge. Hier muss was geschehen. Sofort! Der Verwalter geht unwillig an sein Handy. In Rekordzeit nach nur 15 Minuten erschallt von der Eingangspforte eine Motorradhupe. Ein Kühlschrankfachmann ist da und nimmt flugs die Elektronik des Geräts auseinander. In dem Moment kündigt sich auch ein lange überfälliger Mechaniker an. Der Verwalter zuckt hilflos die Achseln: „Wochenlang kommt keiner, plötzlich alle.“

Ist das garcia-marquesk?

Nein, Effizienz und Action, wenn man ein wenig Druck macht. Das machen wir Deutschen gerne. Aber aufgepasst! Damit verletzt man leicht Gefühle und Stolz der Kolumbianer. Bei uns ist das Fell dicker gegenüber Druck. Mit dem Risiko, dass der so dringend notwendige Handwerker auf stur schaltet und in Gänze abtaucht.

Kolumbien bleibt für viele ein ewiges Rätsel. Allein der Blick über die Andenkordilleren, verhangen, erhaben, geheimnisvoll. Schweigende Zeugen einer turbulenten Vergangenheit. Ergebnis des Zusammenstoßes von Erdplatten. Und der von Kulturen und Menschen.

Die Menschen, fast alle ausnahmslos freundlich. Aber was denken sie? Warum gibt es bei so viel Wärme so viel Blutvergießen? Konquista, Violencia, Pablo Escobar, FARC … Liebe, Ärger, Hass sind hier anders skaliert. Emotionen schlagen in alle Richtungen leicht hoch, enteilen rasch der Kontrolle. Vielleicht entschuldigen sich die Menschen deshalb so häufig. Um Konflikten im Keime bereits die Reißzähne zu ziehen.

Die Indigenen. Bei so viel Fröhlichkeit und Lockerheit der kreolischen Kolumbianer stechen die Überlebenden der Ureinwohner mit ernst-traurigen Gesichtern hervor. Wieviel Leid, Herabsetzung, historisches Unrecht verbergen sich dahinter? Eine Bevölkerung, die von Konquistadoren und Kolonisatoren regelrecht ausgelöscht worden ist. Deren Holocaust.

Garcia-marquesk?

Was könnten uns die indigenen Kulturen alles an Lebensweisheit verraten? Naturheil- und Naturkunde? Wie ihre so beeindruckenden Hochkulturen funktionierten? Die heute Überlebenden wissen es nicht mehr. Wir deshalb auch nicht. Unsere Quellen sind die der Spanier mit ihrem Blick auf die in ihrer Wahrnehmung gottlosen Untermenschen.

Die Fahrt zu den Küsten an Atlantik und Pazifik führt zu den Afro-Kolumbianern. Die wochenlangen Proteste der Afro-US-Amerikaner im Sommer 2020 haben uns die Augen geöffnet für die Schwarzen in den Amerikas. Die Demos waren Antwort auf die brutale Ermordung von George Floyd durch Polizisten in Minneapolis. Die ehemaligen Sklaven aus Afrika werden bis heute schikaniert, diskriminiert, getötet. Schwarz und Weiß bleiben, nicht nur farblich, Welten extremer Kontraste.

Unruhen auch in England. Dort wurden Statuen von Honoratioren von ihren Sockeln gezerrt, als Sklavenhändler und Rassisten entlarvt. Ein Kolumbus geköpft. Gleichwohl, viele andere Völker waren nicht viel zartbesaiteter beim Unterwerfen anderer Völker. Inklusive die der Amerikas. Inka, Maya, Kariben, Chibchas. Pardon, der gute Indianer ist ein Märchen.

Garcia-marquesk?

Kolumbien ist voller Märchen und Mythen. Rund um wilde Tiere, Verstorbene, die plötzlich als Wiedergänger erscheinen, als Geister, Gespenster, über den Himmel ziehen. Garcia Marquez‘ Geschichten wimmeln davon. Aber die Quantenmechanik weiß: Alle Materie ist Energie und miteinander verbunden. Insofern gibt’s für das Garcia-Márquez’sche Zerfließen von Realität und Historie, Traditionen und Mythos eine starke wissenschaftliche Komponente.

Garcia-marquesk?

Literaturwissenschaftlich ist diese Betrachtung über Meister Gabos magischen Realismus vermutlich viel zu plump und dilettantisch. Die Profession wäre vermutlich bereits kreischend die Wände hochgerannt.

Aber schlagen wir mal weiter in die Kerbe. In San Jerónimo (kolumbianische Kleinstadt zwischen Medellín und Sta Fe de Antioquia) machen hahnebüchene Gerüchte die Runde. Sie könnten für einen garcia-marquesken Bürstenstrich taugen. Dass für jeden Corona-Toten die Regierung 30 Millionen Pesos zahle und dass jeder, der zum Arzt geht, sich automatisch infiziere.

Ungewissheiten und Ängste treiben kuriose Blüten in einer Landgemeinde. Menschen mit oft nur ein paar Jahren Schulbildung. Verschwörungstherorien sind Deutschland auch nicht fremd, selbst und besonders unter Forschern. Die renommierte Akademie Tutzing macht demnächst eine ganze Konferenz zu Verschwörung in der Wissenschaft.

Wenn der örtliche Schweißer beklagt, dass Autos vormals Jahrzehnte hielten, heute nur noch ein paar Jahre, weil viele Teile nicht mehr ersetzbar sind und dass er dahinter ein Komplott der Industrie vermute, ist das nicht unbedingt Verschwörung, sondern Realität – unsere ungeschminkte Konsum- und Wegwerfwirklichkeit. Ausplündern eines Planeten für fragwürdiges Wachstum und Bequemlichkeit.

Garcia-marquesk?

Die paramilitärischen Zwischenfälle hier in den Andentälern, bei denen kleine Diebe erschossen wurden, weil Polizei und Gericht die Augen zudrücken, könnten Stoff für Garcia-Marqueskes abgeben. Viele Einheimische finden Selbstjustiz richtig, weil auf hoheitlich staatliche Organe kein Verlass sei und sie korrupt seien. Es gibt Länder, in denen jeder Bürger einen Eindringling in seinem Garten erschießen darf. Mit staatlich geschütztem Recht auf eigene Feuerwaffe und Selbstverteidigung.

Garcia-marquesk?

Unterdessen hält die Pandemie die Welt weiterhin im Klammergriff. Leichte Grippe? Genesene werden rückfällig. Impfstoffe sorgen vielleicht nur für ein paar Monate für Immunität. Nichts Genaues weiß man nicht nach sechs Covid-19 Monaten. Trotz aller Wissenschaft. Unheimlich. Wo kommt das Virus her? Wo geht’s hin? Was macht’s mit uns? Ein Präsident, der das Virus lange als Fake behandelte, worüber Zehntausende von Bürger*innen verstarben, erscheint neuerdings mit Gesichtsschutz in der Öffentlichkeit – und einer neuen Haarfarbe. Während eine digital-stalinistische Spätdiktatur mauert, sich jeglicher Ursachenforschung über die Herkunft des Virus verschließt.

Ja, wie garcia-marquesk ist denn das? Was Gabo daraus für Geschichten hätte weben können!

PS: Der Kühlschrank funktionierte wieder. Doch nach zwei Tagen kehrte er in den Schweigemodus zurück. Just als wir reklamieren wollten, sprang er wieder an und tat seinen Dienst. Mittlerweile ist er wieder verstummt. Garcia-marquesk?

*) Zum Wochenende des Nationalfeiertags gibt es in vielen Teilen Kolumbiens Alkoholverbot (ley seca) und nächtliche Ausgangssperren (toque de queda). Das soll das Corona-Virus und Infektionen eindämmen helfen.

Der Bildungsreise-Pionier

Corona-Update

Medellín14. Juli 2020

Wolfgang Chr. Goede

 

Der Bildungsreise-Pionier

 

DKF Interview mit Markus Jobi, CEO der Reiseagentur Palenque Tours in Medellín: Über Pioniergeist, Deutsch-Sein, Corona-Optimismus.

Markus Jobi gehört zu Medellíns bunter Gemeinde von Expats. Viele sind mit Beginn der Corona Pandemie in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Markus Jobi, Begründer und CEO von Palenque Tours, ist geblieben. Ein Self-Made-Man, der mit seinem Studium der Lateinamerikanistik in Köln nach Medellín kam. Und dann, wie so viele andere deutsche Geschäftsleute in Kolumbien, die entweder gleich blieben oder nach kurzem Heimataufenthalt zurückkehrten, die Reiseagentur Palenque 2012 in Medellín gründete. Sie ist Repräsentant nationaler und internationaler Reiseveranstalter. Palenque hat einen umfangreichen Reisebaukasten für die verschiedenen Regionen und Attraktionen des Landes entwickelt. Daraus stellt es individuelle Reisepakete für Kleingruppen und Einzelreisende zusammen und betreut sie von der Ankunft am Flughafen bis zum Moment der Abreise. Die Zielgruppe für diesen Komplettservice sind Angehörige des gehobenen Mittelstandes, Menschen über 60 — Typus Bildungsreisende, die viel über die Kultur lernen und ihr Leben damit bereichern möchten. Ökologie, Naturschutz und nachhaltiges Reisen sind für Palenque Programm.

DKF: Lieber Markus, mit Palenque verbinden wir die berühmten Maya-Pyramiden in Mexiko. Wofür steht Palenque hier in Kolumbien?

MJ: So hießen die Dörfer entlaufener Sklaven bei Cartagena. Die haben wir zu unserem Markennamen gemacht.

DKF: Was sucht der typische Palenque-Reisende?

MJ: Drei Wochen lang Kolumbien erleben. Eine beliebte Route ist diese: Von den archäologischen Ausgrabungen in San Agustin via Kaffeezone nach Medellín. Der Hauptteil unserer Kunden kommt aus Nord- und Westeuropa, den USA und Kanada. Wobei die Europäer anspruchsvoller sind und gerade die Deutschen eher vom Typ Weltenbummler sind.

DKF:Was verlangt Ihr von Euern Reiseführern?

MJ:Die müssen sich auf dervonden Kundengewünschten Reiseroute nichtnurbestens auskennen. Sie müssen mit Menschen unterschiedlicher Kulturen auch gut umgehen können undCharme besitzen. Des Weiteren müssen sieimBesitz eines offiziellen Zertifikats für Reiseführung sein und dafür eine Ausbildung absolviert haben bei der SENA (Servicio Nacionalde Aprendizaje — eine Art landesweite Berufsschule). Dazu gehört auch ein Erste-Hilfe-Kurs. Als ich anfing,wardas Reisegewerbe inKolumbiennoch viel weniger reguliert mit Vorschriften. SiesindTeil der fortschreitenden Professionalisierung im ganzen Lande.

DKF: Die meisten Menschen auf der Welt verbinden Medellín auf Anhieb mit PabloEscobar, Mafia, Drogen. Wie geht Ihr als Reisebranche damit um?

MJ: Vor allem Netflix und die Narcos-Filme halten diesen Ruf am Leben. Davon profitieren Medellín wie auch der Tourismus. Die Escobar-Tourwirdvon vielen Reisenden nachgefragt. Das ist umstritten, gleichwohl können wir die Geschichte Medellíns nicht ignorieren, sondern müssen uns auch als Reiseagentur damit auseinandersetzen und Gästen entsprechendes anbieten. Vorbild dafür ist die Stadtverwaltung selbst mit dem Programm „Medellín abraza su historia“(Medellín umarmt seine Geschichte).Wovon wir uns allerdings fern halten sind Nachttouren, um uns und unsere Gäste von Prostitution und Drogen abzugrenzen und davor zu schützen.

DKF: Wenn ich mir Eure Webseite ansehe, dann seid ihr ja fast die Studiosus Bildungsreisen Kolumbiens.

MJ: Das ist richtig. Wir pflegen beste Beziehungen zu den Kultureinrichtungen der Stadt. Und bieten auch schon mal eine Lesung in einem gehobenen Hotel an zu Literatur oder zur sozialen Transformation der Stadt. Jüdischen Besuchern aus den USA konnten wir sogar den Blick in die jüdische Kultur Kolumbiens öffnen. Der Rabbiner der hiesigen Synagoge empfing uns und führte uns durch das jüdische Leben der Stadt.

DKF: Apropos Transformation, wenn man so lange wie du in Kolumbien lebt und so intensiv in Gesellschaft, Kultur, Geschichte eintaucht, wie ändert sich der Blick auf Deutschland?

MJ: In Deutschland bin ich nur noch Besucher. Wenn’s geht zu Weihnachten. Ich komme aus einem Städtchen bei Köln mit 4000 Einwohnern. Das tickt anders als Medellín. Hier in Kolumbien wird man mehr Patriot, weiß deutsche Pünktlichkeit, Verlässlichkeit mehr zu schätzen. Allerdings was ich hier aufgebaut habe, hätte ich in Deutschland nie geschafft. Deutsche sind von Natur aus zu pessimistisch, Projektarbeit erfolgt in perfektionistischer Überplanung. Das ist ein Killer. Absolut nichts darf schiefgehen und wenn man scheitert, ist man erledigt. Ein Verlierer.

DKF: Du hast viel mit Nordamerikanern wie auch den Einheimischen zu tun. Wie vergleicht sich die deutsche Mentalität mit deren?

MJ: Die US-Amerikaner sind Stehaufmännchen. Scheitern sie mit etwas, krempeln sie die Ärmel noch weiter hoch und gehen ans nächste Projekt. Die Latinos liegen so ein bisschen dazwischen, können Niederlagen gut wegstecken und sind Meister der Improvisation. Wenn sie eine Pizza backen wollen und keinen Ofen dafür haben, erfinden sie etwas Ofenähnliches. Und was herauskommt, ist essbar. Der Mix aus diesen drei Denk- und Herangehensweisen ist ein sehr fruchtbares Arbeitsfeld.

DKF: Das klingt alles sehr positiv. Wie geht ihr mit der Corona Pandemie und den Einbrüchen im Tourismus um?

MJ: Seit März haben wir unser Personal halbieren müssen. Das ist bedauerlich. Einbrüche ziehen aber auch Aufbrüche nach sich. Etwa den derzeitigen Digitalisierungsschub, dass wir nicht alle im Büro hocken müssen, sondern genauso gut von zu Hause arbeiten können. Die größere FlexibilitätimGeldverkehrundOnline-ZahlungssystemenwirdunsauchzuGute kommen.Ichbin optimistisch.DiesesJahr werden wirüberlebenund imHerbstfinden die ersten TouristenwiederihrenWegnachKolumbien.2021sindwir zurückbei fünfzig bis sechzigProzent, und 2022 wirdalleswiedernormal.

DKF: Wir wünschen viel Erfolg und danke für die spannenden Einblicke in die Palenque-Reisephilosophie.

https://palenque-tours-colombia.com/

Fotos (von oben nach unten): Startseite der Palenque-Webseite; Touristenattraktion Blumenfestival in Medellín (der August-Event-2020 findet virtuell statt); Palenque-Reisepaket; Palenque Gründer und CEO Markus Jobi. © mit freundlicher Genehmigung PalenqueTours

El Chocó – ein gewalttätiges Paradies

Dr. Frank Semper *
für DKF-Blog

06/07/2020

 

* Frank Semper ist Autor von AMAZONAS. Ed. UNAULA, Medellín, 2015

  

El Chocó – ein gewalttätiges Paradies   

„Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies“, heißt ein Buchtitel des großen Reporters und Reisenden Ryszard Kapuscinski. Auch wenn Kapuscinski meines Wissens nie im Chocó gewesen ist, würde er wohl der Aussage zustimmen, dass der Chocó (und die gesamte kolumbianische Pazifikregion) zu jenen Orten gehören, die von den Schönheiten dieser Welt gesegnet und zugleich von ihren Schrecknissen verflucht sind.

Für die Schönheiten und Besonderheiten dieses peripheren Landstrichs und der Lebensweise seiner Bewohner fehlt der nationalen Regierung im fernen Bogotá der Sinn, es sei denn, diese lassen sich auf irgendeine Art und Weise kommerzialisieren, wie die Gold- und Platinminen, der Fischreichtum entlang der Pazifikküste oder die herausragenden Naturwunder in der Ensenada de Utría, im Los Katíos National Park und der Isla Gorgona. 

Statt diesen außerordentlichen Schatz also zu hegen und zu pflegen, seine Bewohner zu schützen und zu unterstützen, überlässt die Regierung das Land den Schrecknissen aus institutioneller Abwesenheit, Korruption, Armut und Gewalt.

Das war schon immer so, seitdem der Chocó 1947 zum Department und Quibdó am Río Atrato zur Provinzhauptstadt gemacht wurden, und es hat sich auch nach dem Friedensschluss mit den FARC-EP nicht zum Besseren gewendet, denn die hier operierende ELN-Guerilla ist nicht bereit zum Frieden, und der Staat bekämpft sie mit Armeeeinheiten  innerhalb der traditionellen Territorien der afrokolumbianischen und indigenen Gemeinschaften. 

Das Auftauchen von Covid-19 hat alles noch verschlimmert, betont das Aktionsbündnis, bestehend aus der Diözese von Quibdó, dem Consejo Comunitario Mayor de la Asociación Campesina Integral del Atrato (COCOMACIA), der Mesa Indígena del Chocó, dem Foro Interétnico Solidaridad Chocó, der Red Departamental de Mujeres Chocoanas y der Mesa Territorial de Garantías Chocó, in einer gemeinsamen Stellungnahme, gerichtet an die nationale und internationale Öffentlichkeit.    

https://www.semana.com/nacion/articulo/mas-alla-de-la-pandemia-el-choco-sufre-el-abandono-estatal-y-la-corrupcion/678128 

Die Plagen des Chocó sind für seine Bewohner noch unerträglicher geworden, seitdem Covid-19 weltweit die Schlagzeilen beherrscht und dadurch alle anderen Probleme „unsichtbar“ geworden sind.

Die regierungsamtlich verordneten Covid-19 Dekrete sind im Chocó ganz überwiegend an eine Bevölkerung aus afrokolombianischen und indigenen Gemeinschaften adressiert, die schon aufgrund des andauernden bewaffneten Konfliktes vielerorts von der Außenwelt abgeschlossen ist und deren tägliche, für die Lebensmittelversorgung lebensnotwendige Tätigkeiten, Fischen, Jagen, Landbearbeitung stark eingeschränkt sind. Die Beschränkung des Reisens und des Zugangs zu den lokalen Märkten berauben den  Bewohnern notwendige Einkünfte. Unter der alltäglichen Behinderung kultureller, religiöser und sozialer Aktivitäten leidet das Gemeinschaftsleben, die Traditionen werden zerstört, Bildung und Erziehung für Kinder und Jugendliche bleiben ein rares Gut. Neben den nunmehr in den Mantel der Legalität der Covid-19-Dekrete gekleideten Ausgangssperre (confinamiento) geht die Praxis der Vertreibungen (deplazamiento) und der Zwangsrekrutierung Minderjähriger (reclutamiento) durch die Akteure des bewaffneten Konfliktes ungebremst weiter. Während die Bewohner umfassenden Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen sind, haben die paramilitärischen AGC (Autodefensas Gaitanistas de Colombia) und die ELN-Guerilla ihre Einflusszonen ausgedehnt.   

Die wertvollen Errungenschaften des Friedensschlusses vom 24.11.2016, die Bestimmungen aus dem eingefügten „Ethnischen Kapitel“, haben den Chocó nicht erreicht und die mesas de diálogo, die den Dialog zwischen den ethnischen Gemeinschaften, dem Staat, und den Konfliktparteien befördern sollen – ich habe an anderer Stelle darüber geschrieben –

http://www.dkfev.de/index.php?section=news&cmd=details&newsid=169            

funktionieren hier nicht.   

Selbst die Flucht der Menschen vor den Gewalttaten der bewaffneten Akteure, wie sie seit  den Zeiten der Violencía in den 1950er Jahren als Überlebensstrategie eingeübt werden musste, die Kunst des Versteckens, des sich Unsichtbar machen im Wald (Vamos al monte!) bietet kein Entkommen mehr. Mit hochgerüsteter Technik dringen diese längst bis in die letzten Winkel der abgelegenen Zuflüsse von Río Atrato, San Juan und Baudó vor.     

Es mag zynisch klingen, aber es ist die bittere Wahrheit. Solange im Chocó der bewaffnete Konflikt fortdauert, sind die Covid-19 Dekrete eher geeignet, Regierungsversagen zu kaschieren als Menschenleben zu retten. 

Ergänzend möchte ich auf den Beitrag von Dr. Michael Paetau von Wissenskulturen e.V. verweisen, der mich vom Aufruf des Aktionsbündnisses in Quibdó zur Lage im Chocó informiert hat.   

https://www.wissenskulturen.de/wp_wissenskulturen/index.php/2020/05/03/covid-19-und-die-lage-im-choco-ein-hilferuf/

 

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Erläuterung zu der Abbildung:

1995 waren die traditionellen Strukturen der meisten indigenen Emberá- / Waunana- und der Afro-Gemeinschaften im Chocó noch weitgehend intakt.

Zum Ende der 1990er Jahre setzte eine massive Ausweitung paramilitärischer Aktivitäten aus dem benachbarten Departement Antioquia ein und es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit FARC-EP und ELN-Guerilla um die Territorialgewalt.

Emberá Chocó 1994 FS ©