Ein Besuch der Schule in Alainawao – Teil 2 unseres Reiseberichts (La Guajira, Kolumbien)

    
    Beitragsautor:

     Michael Zysk, DKF-Mitglied in Berlin
     Für den Blog im Mai 2025
   
     Alle Beitragsautoren des DKF-Blogs
     vertreten ihre persönlichen Ansichten.

Hinweis der Redaktion:

Die erste Reise des Autors führte am 09. März 2022 zur Schule in Souluguamana (La Guajira, Kolumbien). Sie können den Bericht dazu unter diesem Link nachlesen
1. Reisebericht

 

Besuch der Schule in Alainawao – Teil 2 unseres Reiseberichts

Nach unserem ersten Besuch in der Rancheria Souluguamana am 9. März 2022 führte uns unsere Reise am 10. März nach Alainawao. Wie bereits im ersten Bericht erwähnt, hatten wir die Möglichkeit, während unserer Zeit in La Guajira tiefer in die Kultur und den Alltag der Wayúu-Gemeinschaft einzutauchen. In diesem zweiten Bericht möchte ich unsere Erlebnisse in Alainawao schildern und auf besondere Beobachtungen sowie eine große Herausforderung eingehen.

Begrüßung und erste Eindrücke

An der Schule angekommen, wurden wir herzlich von der Lehrerin Maricela und den 34 anwesenden Kindern empfangen. Insgesamt besuchen 40 Kinder die Schule. Anders als in Souluguamana gab es diesmal auf unseren Wunsch hin keine Tanzvorführung zur Begrüßung. Unser Ziel war es, einen authentischen Einblick in den normalen Schulalltag zu erhalten – doch das erwies sich als schwierig.

Unsere weite Anreise und die mitgebrachte Kameraausrüstung, darunter auch eine Drohne, rückten uns zwangsläufig in den Mittelpunkt. Daher entschieden wir uns schnell, den Kindern eine aktive Rolle zu geben: Wir ließen sie die Fotokamera und die GoPro ausprobieren.

Sie hatten große Freude daran, selbst zu fotografieren und zu filmen. Dabei fiel uns auf, dass sie ein bemerkenswertes Gespür für Bildkomposition hatten. Besonders spannend war zu beobachten, wie viel natürlicher und spielerischer sie sich vor der Kamera bewegten, wenn sie selbst die Kontrolle über die Fotografie hatten. Dies machte deutlich, dass sie ein intuitives Verständnis für visuelle Gestaltung mitbrachten – auch ohne viel vorherige Erfahrung mit solchen Geräten.

Kamerakinder

Diese Beobachtungen waren für uns besonders aufschlussreich, da wir herausfinden wollten, ob und wie der Einsatz digitaler Medien dazu beitragen kann, die Selbstrepräsentation indigener Gemeinschaften zu stärken. Wie können audiovisuelle Mittel genutzt werden, um die eigene Perspektive in einer dominierenden Mehrheitsgesellschaft sichtbar zu machen? Die Begeisterung der Kinder für die Kameratechnik und ihr intuitiver Umgang damit zeigten zumindest, dass großes Potenzial für kreative Selbstinszenierung und Dokumentation besteht.

Während der Pause wurden auf dem Schulhof vier Pylonen als improvisierte Tore aufgestellt, und es entwickelte sich schnell ein Fußballspiel. Die Kinder spielten barfuß, in Crocs oder mit Turnschuhen.

Dann ging es zurück ins Klassenzimmer, sodass wir doch noch einen kleinen Einblick in einen Schulalltag bekamen, der nicht allein durch unseren Besuch geprägt war.

Im Unterricht

Tradition und Bildung – Das Encierro-Ritual

Ein weiteres wichtiges Thema unseres Besuchs war das Encierro-Ritual, das eine zentrale Rolle in der Wayúu-Gemeinschaft spielt. Dieses jahrhundertealte Initiationsritual markiert den Übergang eines Mädchens zur Frau und beginnt mit ihrer ersten Menstruation. Traditionell dauert das Encierro zwischen einem Jahr (12 Monde) und fünf Jahren. Während dieser Zeit bleibt das Mädchen in einem abgegrenzten Bereich des Hauses und hat nur Kontakt zu ausgewählten Frauen. In dieser Phase erlernt sie essenzielle Fähigkeiten, die für ihr Leben in der Gemeinschaft von großer Bedeutung sind.

Dazu gehört vor allem die Webkunst (Susu), eine der wichtigsten Fähigkeiten für Wayúu-Frauen. Die Mädchen lernen, kunstvolle Hängematten (chinchorros) und Taschen (mochilas) herzustellen – nicht nur als Alltagsgegenstände, sondern auch als wirtschaftliche Einnahmequelle und Symbol kultureller Identität. Neben dem Weben erwerben sie Wissen über traditionelle Haushaltsführung, die Zubereitung von Speisen und die Organisation des familiären Zusammenlebens. Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Heilpflanzenkunde: Die Älteren vermitteln ihnen Wissen über die Pflanzen der Region und deren Anwendung in der traditionellen Medizin.

Doch das Encierro umfasst nicht nur praktische Fähigkeiten, sondern auch die Vermittlung von sozialen und moralischen Werten. Da Wayúu-Frauen oft eine zentrale Rolle in der Vermittlung von familiären Konflikten übernehmen, werden sie während des Encierro auch in Kommunikation und Konfliktlösung geschult. Schließlich spielt auch die spirituelle Ebene eine bedeutende Rolle: Die Mädchen lernen, Träume und spirituelle Zeichen zu deuten und sich mit den Traditionen ihrer Vorfahren zu verbinden.

Die Wayúu sind eine matrilineare Gesellschaft, in der die Abstammung ausschließlich über die mütterliche Linie verläuft. Identität und kulturelles Erbe werden durch die Frauen weitergegeben. Männer haben zwar eine wichtige Rolle in der Gemeinschaft, können ihre ethnische Zugehörigkeit jedoch nicht an ihre Kinder weitervererben. Nicht-Wayúu werden als „Alijuna“ bezeichnet.

Unsere Gespräche mit Lehrerin Maricela zeigten, dass das Encierro heute oft in kürzerer Form praktiziert wird. Viele Eltern nehmen ihre Töchter für etwa einen Monat aus der Schule, anstatt die traditionelle Dauer einzuhalten. Maricela selbst wäre offen dafür, eine längere Encierro-Phase zu unterstützen, doch die Eltern entschieden sich bereits für die Dauer ohne vorherige Absprache mit ihr. Diese Entwicklung birgt Chancen und Herausforderungen: Einerseits bleibt den Mädchen so der Zugang zur schulischen Bildung erhalten, andererseits geht durch die Verkürzung ein Teil des über Generationen mündlich weitergegebenen Wissens verloren.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie dieses traditionelle Wissen im modernen Bildungssystem Bestand haben kann. Während die westliche Schulbildung auf schriftliche Wissensvermittlung setzt, basiert das Encierro auf mündlicher Weitergabe und praktischer Erfahrung. Dieses Spannungsfeld zeigt deutlich die Auswirkungen kolonialer Bildungssysteme, in denen indigenes Wissen oft nicht als gleichwertig anerkannt wird.

Auch die Rollenbilder innerhalb der Wayúu-Gemeinschaft stehen zur Debatte. Kritiker – auch aus den eigenen Reihen – sehen das Encierro als überholtes Konzept, das Frauen in traditionelle Aufgaben drängt. Gleichzeitig gibt es moderne Wayúu-Frauen, die studieren, arbeiten und dennoch eine Form des Encierro als wichtigen Teil ihrer Identität bewahren möchten. Sie hinterfragen nicht unbedingt das Ritual an sich, sondern suchen nach Möglichkeiten, es an zeitgemäße Lebensrealitäten anzupassen.

Der wachsende westliche Einfluss führt dazu, dass viele indigene Traditionen allmählich verschwinden. Globalisierung, soziale Medien und moderne Lebensstile verändern auch die Vorstellungen innerhalb der Wayúu-Gemeinschaft. Doch gerade dieser Wandel bringt eine starke Gegenbewegung mit sich – viele Wayúu setzen sich bewusst für den Erhalt ihrer Kultur ein und versuchen, Traditionen in neue Kontexte zu überführen.

Das Encierro steht somit exemplarisch für die Herausforderungen indigener Gemeinschaften im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Unser Gespräch mit Maricela machte deutlich, dass es keine einfache Lösung gibt – vielmehr müssen indigene Gemeinschaften selbst entscheiden, wie sie ihre Rituale in die Zukunft führen wollen.

Unser Besuch hat uns erneut gezeigt, wie wichtig es ist, diesen Wandel nicht von außen zu bewerten, sondern ihn gemeinsam mit den betroffenen Gemeinschaften zu verstehen und zu begleiten, wenn es erwünscht ist.

Fazit

Kurz vor unserem Abschied erzählte uns Lehrerin Maricela, dass sie sich für die Kinder Schuluniformen wünscht. Ein 13-jähriger Junge, mit dem wir sprachen, äußerte hingegen einen anderen Wunsch: einen Fußballplatz. Diese einfachen, aber bedeutsamen Wünsche zeigten uns noch einmal, welche alltäglichen Herausforderungen und Hoffnungen die Kinder in Alainawao begleiten.

Lehrerin Marciela im Interview

Mit diesen Eindrücken verließen wir die Schule – dankbar für die Offenheit, mit der wir empfangen wurden, und die Gespräche, die uns tiefe Einblicke in das Leben der Wayúu ermöglichten. Wir hoffen, dass die Schüler nicht nur ihre Schuluniformen erhalten, sondern vielleicht auch ihren gewünschten Fußballplatz.

Ein großes Dankeschön an Felix Montiel, Beate Busch sowie die NL Rheinland-Ruhr für ihren Einsatz zur Verbesserung der Bildungsbedingungen durch den Bau neuer Schulen.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert